Bis 2016 100% Ökostrom?
Was zunächst wie ein Scherz klingt, ist tatsächlich wahr: Schon in acht Jahren könnten wir bei der Stromerzeugung völlig auf alle Atom-, Kohle- und auch Gaskraftwerke verzichten und sämtlichen Strom aus erneuerbaren Energien erzeugen. Wenn nur das Wachstumstempo der vergangenen Jahre anhält. Wir berichten über Szenarien von Andreas Henze.
(23. März 2008) - Bereits im Jahr 2016 könnte sämlicher Strom aus erneuerbaren Energien kommen, wenn man nur das Wachstumstempo der vergangenen Jahre beibehält. Das bezeichnen Solarkritiker als Schwindel und selbst Solarfanatiker können fast nicht glauben, was bereits heute Tatsache ist: Die Erneuerbaren wachsen bereits über Jahre mit atemberaubendem Tempo.
Rechenmethode
Ein Beispiel verdeutlicht die Rechnung: Wenn eine Größe von zehn auf 15 Einheiten wächst, hat sie um 50 Prozent zugenommen. Wächst sie noch einmal um 50 Prozent, dann ist man bei 22,5 Einheiten. Um das mittlere Wachstum zu errechnen, bestimmt man das Gesamtwachstum: 10/22,5 = 2,25. Daraus die Quadratwurzel sind 1,5: ein Wachstum von 50 Prozent. Denn 10 x 1,5 = 15 und 10 x 1,5 x 1,5 = 10 x (1,5) ** 2 = 22,5.
Rasante Zuwächse
Die Stromerzeugung aus Biomasse ist in den vergangenen 16 Jahren (1990 bis 2006) um jährlich durchschnittlich 15 Prozent gewachsen (1990 = 1,42, 2006 = 12,9, 12,9/1,42 = 9,1, daraus die sechzehnte Wurzel ergibt 1,15 oder 15 Prozent). Allein in den Jahren zwischen 2000 und 2006 jährlich um 21 Prozent auf jährlich 13 TWh.
Ähnlich stürmisch ist die Windkraft gewachsen: zwischen 1990 und 2007 um jährlich 50 Prozent, selbst in den Jahren zwischen 2000 und 2007 noch um 23 Prozent jährlich auf 40 TWh jährlich.
Nicht zuletzt gab es auch bei der Photovoltaik dramatische Zuwächse: Zwischen 1990 und 2006 um jährlich 63 Prozent, zwischen 2000 und 2006 um jährlich 88 Prozent auf zwei TWh. Diese Zahl sieht klein aus im Vergleich zum jährlichen Stromverbrauch in Deutschland von etwa 600 TWh. Ein weiteres Wachstum in diesem Tempo würde aber bereits im Jahr 2016 zu einer Stromerzeugung aus PV in Höhe von 1.100 TWh führen.
Alle Erneuerbaren zusammen haben zwischen 1990 und 2006 pro Jahr im Schnitt um 24 Prozent zugelegt, Wasserkraft nicht mitgerechnet. Es gab in dieser Zeit auch einen enormen technischen Fortschritt. Windräder der heutigen Größen galten 1990 als nicht beherrschbar, Geothermie war nicht erschließbar und die Wirkungsgrade bei PV haben sich gegenüber damals deutlich erhöht.
Die Szenarien
Andreas Henze von der Solarwerkstatt Freising hat nun spitz in die Zukunft gerechnet. Dabei hat er einerseits die Wachstumsraten der Vergangenheit berücksichtigt, andererseits aber auch die verfügbaren Potenziale. Bis 2016 könnte, so Henze, Wind etwa 200 TWh jährlich erbringen, PV 200 TWh (das ist bei derzeitigem Wachstumstempo in sieben Jahren erreicht) und Biomasse etwa 50 TWh (bei derzeitigem Tempo in sieben Jahren erreichbar).
Selbst wenn Wind "nur" mit 22 Prozent jährlich wächst - das ist das Wachstumstempo zwischen 2000 und 2006 - wird die Vollversorgung aus Erneuerbaren lediglich ein Jahr später erreicht. Flächenprobleme sieht Henze nicht, weil selbst die zwei Millionen Hektar derzeitiger landwirtschaftlicher Stilllegungsfläche ausreichen würden, um den gesamten Strombedarf der Republik zweifach zu decken. In einer weiteren Rechnung wird das PV-Wachstum auf 40 Prozent jährlich begrenzt (jährliche Wachstumsrate 2000 bis 2006: 88 Prozent), das Windwachstum von 50 Prozent auf 22 Prozent gebremst und auch das Biomassepotenzial auf 66 Prozent begrenzt. Selbst dann erreicht man das Ziel bis 2020 bei Ausbau der Geothermie auf fast 100 TWh.
Die Kostenfrage
Die Mehrkosten für Erneuerbare schätzt Henze mit 20 Milliarden Euro jährlich zwischen 2014 und 2027 ab. Ab 2027 sind die Erneuerbaren dann günstiger, als es Kraftwerke auf der Basis nuklearer oder fossiler Brennstoffe wären. Die Kosten der Erneuerbaren sinken dann Jahr für Jahr, weil es keine Brennstoffverknappung gibt. Im Gegensatz dazu würden die Kosten atom-fossiler Kraftwerke Jahr für Jahr ansteigen. Dabei wurden den Erneuerbaren die vermiedenen externen Kosten in Höhe von vier Cent je Kilowattstunde gutgeschrieben.
Bereits heute wird mehr Geld in erneuerbare Erzeugungsanlagen investiert, als in fossile Kraftwerke: Jährlich 12 Milliarden Euro 2007 mit steigender Tendenz. Die gesamte Stromwirtschaft investiert jährlich etwa fünf Milliarden Euro in Netze und Kraftwerke. Derzeit reduziert die Stromwirtschaft ihr Investitionsprogramm: Von den neuen bis 2016 geplanten Kraftwerken mit einer Kapazität von 27 GW sind bislang firmenintern erst 7,7 GW intern genehmigt. Die geplanten Emissionsbesteuerung verteuern die fossilen Kraftwerke und verschaffen den Erneuerbaren einen zusätzlichen Vorsprung.
Die Angst, ohne Atom und Kohle würden in Deutschland die Lichter ausgehen, ist verständlich, aber unbegründet. Das neue Ziel wird jedoch nicht von allein erreicht und erfordert ein Umdenken und auch ein Umstrukturieren erheblichen Ausmaß. Jeder Euro für neue Atom- oder Kohlekraftwerke ist vergeudet.
Kompletter Vortrag hier. Email: henze@solAH-freising.de
Das neue Denken
Ein Kommentar von Aribert Peters
Stromversorgung ohne neue Kohlekraftwerke und ohne Kernernergie, ist das überhaupt möglich? Tatsächlich ist das nur möglich, wenn sich die Energiepolitik wirklich ändert.
Allein die Kraft-Wärme-Kopplung könnte ohne Mehrkosten 50 Prozent des Stroms erzeugen und gleichzeitig wesentlich die Umwelt entlasten, so das Ergebnis einer Studie im Auftrag der Bundesregierung.
Wenn erneuerbare Energie so weiterwächst, wie in den vergangenen 16 Jahren, dann ist die gesamte Stromerzeugung Deutschlands bereits im Jahr 2016 vollständig regenerativ.
Die Kosten der Erneuerbaren sinken, die der Fossilen steigen. Windkraft wird heute nur noch so hoch vergütet, wie der Strom aus einem neuen Kohlekraftwerk kostet. Strom aus Kohle wird künftig auch mit den Kosten der CO2-Emissionen belastet und damit teurer. Wer über Kosten redet, sollte nicht vergessen, dass die Strompreise derzeit um jährlich etwa 20 Milliarden Euro überteuert sind. Das ist etwa der Betrag, den der Ausbau erneuerbarer Stromerzeugung kostet.
Die Energieeinsparung kann den Stromverbrauch drastisch mindern. Wer heute neue Kraftwerke baut, muss deren Kosten mit den Kosten der Stromeinsparung vergleichen.
Die Positionen Kraft-Wärme-Kopplung, erneuerbare Energien, Stromeinsparungen und Überteuerung gegenwärtiger Strompreise machen eine Stromversorgung auch ohne Kernkraft und neue Kohlekraftwerke möglich.
Das setzt politisches Umdenken voraus. Das setzt einen Abschied von der Stromkonzernen voraus. Neue Regierungen in Bund und Ländern sollten daran gemessen werden, ob sie zu diesem Schritt in der Lage sind.