Die Energiewende
Segment-ID: 14452Wärmewende und Sektorenkopplung neu denken
Ökostrom kann auch im Wärmesektor hocheffizient eingesetzt werden und dadurch fossile Energieträger einsparen. Allerdings kommt es auf das
richtige Zusammenspiel aller Faktoren der Energiewende an – und auf den zügigen Ausbau der Erneuerbaren.
Von Axel Horn
(11. Mai 2023) Die gute Nachricht zuerst: Elektrischer Strom aus erneuerbaren Energien ist eine hocheffiziente Energieform. Wenn er direkt genutzt wird, spart das nicht nur die Erzeugung derselben Strommenge in einem konventionellen Kraftwerk ein, sondern zusätzlich noch einmal so viel fossile Energie, die sonst als Abwärme aus dem Kraftwerk kommen würde. Eine ähnlich ineffiziente Überproduktion von Abwärme ist bei jedem Auto mit Verbrennungsmotor zu beobachten, wo der größere Teil des Kraftstoffs im Kühler und nicht bei den Rädern ankommt.
Dieselben Gesetzmäßigkeiten der Thermodynamik wirken in umgekehrter Richtung beim Einsatz elektrischer Energie in Wärmepumpen. Hier zieht die elektrische Energie zusätzlich zweimal so viel Wärme aus der Umgebung.
Zweimal mit dem Faktor 3 Energie eingespart – in den Kraftwerken wie in den Häusern? Das klingt überzeugend und daher ist es nicht verwunderlich, dass Ökostrom nicht nur für herkömmliche Anwendungen im Stromsektor zum Einsatz kommen soll, sondern zunehmend auch bei der Mobilität und im Wärmesektor. Das Schlagwort dafür lautet Sektorenkopplung.
Axel Horn ist seit 1991 Mitglied und Experte für Solarthermie im Bund der Energieverbraucher. Seit 1992 betreut er Fachfirmen bei der Planung, Installation und Optimierung von Heizungsanlagen auf Basis von Ökoenergien. www.ahornsolar.de
Hindernisse der Sektorenkopplung
Zuallererst fehlt es beim Ökostrom noch an der Menge: Im Durchschnitt der letzten Jahre liegt der Anteil der Stromerzeugung aus Wind und Sonne hierzulande erst bei knapp 40 %. Gemessen an dem durch die Sektorenkopplung zukünftig doppelt so hohen Stromverbrauch sind das nur 20 %. Wir müssen uns also noch lange Zeit entscheiden, wofür wir eine frisch produzierte Kilowattstunde Ökostrom einsetzen wollen. Diese spart 1 kWh Kohlestrom und damit 3 kWh Kohle ein. Stattdessen kann sie zum Antrieb eines Autos genutzt werden und damit 2 kWh Diesel einsparen; oder sie erzeugt 1 kWh Wärme und spart dabei mittels Wärmepumpe 3 kWh Gas ein. Mit einem Elektroheizstab ist es allerdings nur 1 kWh Brennstoffeinsparung. So oder so ist jede kWh Ökostrom nur einmal einsetzbar – am Schluss hat sie sich in Wärme aufgelöst.
Ohne eine Verfünffachung der Windräder und PV-Anlagen wird die „Energiewende durch Elektrifizierung“ nicht funktionieren, ist die allgemein gängige Annahme. Das ist an sich kein unüberwindliches Problem. In den 1990er-Jahren noch wurde den erneuerbaren Energien nachgesagt, sie könnten nicht mehr als 5 % des Stromverbrauchs decken. Das haben wir durch technologischen Fortschritt und immer bessere Wirtschaftlichkeit der Windenergie- und PV-Anlagen weit hinter uns gelassen.
Während aber in den Pionierzeiten tatsächlich jede Kilowattstunde aus Erneuerbaren-Anlagen jederzeit ins Stromnetz eingespeist werden konnte, zeigen sich jetzt erste Sättigungseffekte. Wenn der Stromverbrauch der Industrie gedeckt ist, die E-Autos vollgeladen sind und die Wärmepumpen alles in den Häusern maximal aufgeheizt haben, ist der viele Strom aus Wind und Sonne ohne Speicher nichts mehr wert.
Stromumwandlung in Wärme
Elektrische Energie lässt sich mit geringem technischem Aufwand in Wärme umwandeln. So sind in letzter Zeit viele große Anlagen entstanden, mit denen die zeitweisen Windstromüberschüsse zur Einspeisung beispielsweise in Wärmenetze verramscht werden. Von der anfangs beschriebenen Effizienz mit Faktor 3 bleibt dabei allerdings nichts mehr übrig. Ebenso ist zu beobachten, dass Photovoltaikstrom vom eigenen Dach nicht nur dann zur ineffizienten direktelektrischen Wärmeerzeugung genutzt wird, wenn er „überschüssig“ ist, sondern wenn die Wärmepumpe mit ihrer elektrischen Leistungsaufnahme nicht mithalten kann oder überhaupt nicht vorhanden ist.
Direktelektrische Wärmeerzeuger haben immerhin den Vorteil, dass sie sich mit geringem Aufwand zusätzlich in ein Heizsystem integrieren lassen. Daher sind sie auch dann wirtschaftlich, wenn sie nur betrieben werden, solange ausreichend Ökostrom zur Verfügung steht. Wärmepumpen laufen dagegen häufig als einziger Wärmeerzeuger im Haus auch dann noch, wenn überwiegend Fossilstrom aus dem Netz kommt. Dann holen sie bestenfalls die Wärme aus der Luft, die im Kraftwerk als Abwärme verloren geht. Rein energetisch betrachtet ist das nicht besser oder schlechter als bei einem Gaskessel, der ebenfalls 100 % des Brennstoffs in Wärme umwandelt. Aber der Umweg über den Strom erfordert den Bau neuer Gaskraftwerke und Stromleitungen.
Wärmenetze als Schlüssel für Abwärmenutzung
Letztlich endet jede hochwertige Energie nach der letzten Umwandlung, Speicherung und Nutzung als Wärme. Für den Wärmesektor mangelt es nicht an Abwärme, nur an Infrastruktur, diese nutzbar zu machen. Bereits jetzt nutzen viele Wärmenetze die Abwärme aus konventionellen Kraftwerken. Bei der Umstellung auf ein zu 100 % erneuerbares Energiesystem entsteht so das Problem, nicht genügend Abwärme aus den Kraftwerken zu erhalten, solange Wind und Sonne diese überflüssig machen. Genau dann ist aber günstiger Strom verfügbar, um mit einer Großwärmepumpe das Abwärmepotenzial anzuzapfen und damit das Wärmenetz zu versorgen.
Wettlauf um das CO2-Restbudget
Der Ausbau der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien, der Strom- und Wärmenetze sowie Stromspeicher und der Wasserstoffwirtschaft ist nicht innerhalb weniger Jahre zu schaffen. Es wird bis 2030 dauern, um wenigstens ein Drittel der Heizungsanlagen mit einer elektrischen Wärmepumpe auszurüsten. Wenn es gut läuft, wird dann ein weiteres Drittel aus dem Fernwärmenetz versorgt. Aber das letzte Drittel wird unvermeidlich noch über zehn Jahre lang mit fossiler Energie beheizt werden. Für alle Gebäude gilt daher, dass schon in der Zeit bis zur Installation der Ideallösung Maßnahmen durchgeführt werden sollten, die den Verbrauch fossiler Energie zumindest anteilig senken.
Die Bundesregierung macht dabei Druck: Ab dem 1. Januar 2024 soll eine Heizungsanlage nach dem fällig werdenden Austausch des Wärmeerzeugers zu 65 % erneuerbare Energien nutzen. Viele Fachleute fragen sich, wie das für Gebäude umsetzbar ist, die weder für eine Wärmepumpenheizung noch für einen Holz- beziehungsweise Pelletkessel geeignet sind und für die kein Anschluss an ein Wärmenetz verfügbar ist.
Solarthermie als Stauumfahrung der Energiewende
Solarthermie bietet die Chance, kurzfristig und ohne eine zusätzliche Belastung des Stromnetzes den Verbrauch fossiler Energien einer Heizungsanlage deutlich zu verringern. Die bei heizungsunterstützenden Anlagen zusammen mit den Sonnenkollektoren installierte Speichertechnik und hocheffiziente Wärmenutzung stellt eine hervorragende Basis für die spätere Umstellung auf eine Wärmepumpe oder einen Wärmenetzanschluss dar.
Wärmepumpen sollten vorrangig für das Beheizen von Häusern eingesetzt werden, in denen sie mit dem knappen Ökostrom ein Maximum an Wärme erzeugen. Aktuelle Wärmepumpen sind zwar in der Lage, auch höhere Vorlauftemperaturen zu erzeugen. Aber dieselben Kilowattstunden Heizwärme kosten bei 55 °C Vorlauftemperatur für einen Radiatorheizkreis 30 bis 50 % mehr Strom als bei 35 °C für einen Flächenheizkreis.
Jede zusätzliche Heizfläche, die es ermöglicht, die Auslegungstemperatur eines Heizkreises zu senken, vermindert zwar nicht
die Wärmemenge, die in die Raumheizung fließt, aber die elektrischen Kilowattstunden, die von der Wärmepumpe verbraucht werden und teuer bezahlt werden müssen. Es lohnt sich also, Altbauten zur Senkung der Heizkreistemperaturen energetisch so zu sanieren, dass der Stromverbrauch der Wärmepumpe bezahlbar bleibt. Ansonsten investiert man besser in einen Pelletkessel, der weniger Probleme mit hohen Heizkreistemperaturen hat. Biomassekessel müssen jetzt übrigens mit einer solarthermischen Anlage oder Wärmepumpe kombiniert sein, um Zuschüsse aus dem Bafa-Förderprogramm zu erhalten.
Für die Wärmewende steht eine Vielzahl an unterschiedlichen technischen Lösungen zur Verfügung. Wir müssen alle nutzen, um die Klimaschutzziele zu erreichen.
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Powershift-Studie: Energiewende kein Rohstoffkiller
Von Joachim Wille
(14. April 2023) Der Ausbau von Solar- und Windkraftanlagen erhöht zwar den Metallbedarf, dies jedoch nicht stärker als bei fossilen Alternativen. Trotzdem muss das Recycling der Erneuerbaren-Anlagen verbessert werden.
Millionen Solaranlagen, zigtausend Windräder, neue Stromtrassen und Batteriespeicher: Die Energiewende fordert ihren Tribut an Rohstoffen, darunter Metalle wie Stahl und Kupfer. Eine kürzlich erschienene Studie der Organisation Powershift gibt nun zumindest in einem Punkt Entwarnung. Sie hat den Metallbedarf verschiedener Energietechnologien miteinander verglichen mit dem Ergebnis: Der „Rohstoffhunger“ der erneuerbaren Energien könne nicht als Argument gegen die Energiewende verwendet werden.
Laut der Studie schneiden Ökoenergietechnologien wie auf Dächern montierte Solarstromanlagen bezüglich ihres „Metall-Fußabdrucks“ deutlich besser ab als beispielsweise Kohlekraftwerke. Im Vergleich zum Metallverbrauch anderer Branchen benötige der Ausbau der Erneuerbaren sogar weitaus weniger Metalle. So enthielten allein die Antriebsbatterien der E-Fahrzeuge des Autobauers VW, die im Jahr 2030 produziert werden sollen, etwa achtmal so viel Aluminium und Nickel wie der gesamte geplante Zuwachs an Windrädern in Deutschland zwischen 2022 und 2030. Studienautor Michael Reckordt: „Nicht der Umstieg auf erneuerbare Energien ist die eigentliche Herausforderung, sondern die Frage, wo die Metalle in Zukunft eingesetzt werden.“
Metalle für die Energiewende: bdev.de/metalle
Rohstoff- und Energiewende zusammendenken: bdev.de/rohstoffe
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Neues Marktdesign für Strom: Plattform „Klimaneutrales Stromsystem“ gestartet
(11. April 2023) Die 2021 im Ampelkoalitionsvertrag angekündigte Plattform „Klimaneutrales Stromsystem“ (PKNS) ist an den Start gegangen. Sie soll ein neues Marktdesign schaffen für eine Stromwelt, die aus erneuerbaren Energien besteht. Verantwortlich zeichnet das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK). Gemeinsam mit Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft wird im Rahmen der Plattform diskutiert, wie der Strommarkt für das Stromsystem der Zukunft, das weitgehend auf erneuerbaren Energien beruht, fit gemacht werden kann. Der Bund der Energieverbraucher ist über den Dachverband Verbraucherzentrale Bundesverband beteiligt.
Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) verglich in seinem Eröffnungsstatement die Arbeit am Strommarktdesign mit einer Operation am offenen Herzen des Energiesystems. Beim Ausbau der Hardware für neue Energien sei man erfolgreich gewesen. Jetzt gehe es um die Entwicklung der Software für die Funktion der Energiemärkte. Die Verbraucher sollten in den Genuss der günstigen Preise der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien kommen. Die Versorgungssicherheit solle gewährleistet sein und auch die Finanzierung erneuerbarer Erzeugungskapazitäten.
Es ist zu hoffen, dass die derzeitige Blockade der gemeinschaftlichen Versorgung von Verbraucherinnen und Verbrauchern einer gezielten Förderung weicht.
Hinweis zum Video Energy Sharing: bdev.de/energysharing
harte Emissionsbegrenzungen notwendig weiter lesen
Minderungen unzureichend – harte Emissionsbegrenzungen notwendig
(27. Januar 2023) Der Expertenrat für Klimafragen wurde mit dem Klimaschutzgesetz 2020 installiert. Er hat jetzt sein erstes Zweijahresgutachten vorgestellt. Die Bilanz ist klar: Ohne einen Paradigmenwechsel sind die Klimaziele bis 2030 nicht zu erreichen. „Die bisherigen Emissions-Reduktionsraten reichen bei weitem nicht aus, um die Klimaschutzziele für 2030 zu erreichen – weder in der Summe noch in den einzelnen Sektoren, „Die jährlich erzielte Minderungsmenge müsste sich im Vergleich zur historischen Entwicklung der letzten 10 Jahre mehr als verdoppeln. Im Industriesektor wäre etwa eine 10-fache und bei Verkehr sogar eine 14-fache Erhöhung der durchschnittlichen Minderungsmenge pro Jahr notwendig.“ Diese enormen Minderungen bedeuten nicht mehr einfach nur mehr Anstrengungen, sondern einen Paradigmenwechsel., so Ratsmitglied Thomas Heimer. Das bisherige Ausbautempo bei Solar- und Windenergieanlagen, Wärmepumpen oder der Elektromobilität wird laut dem Zweijahresgutachten bei weitem nicht ausreichen, um die jeweils anvisierten Ausbauziele der Regierung zu erreichen. Zudem wird deutlich, dass im gleichen Maße der Abbau des fossilen Kapitalstocks im Gebäude- oder Verkehrssektor, beispielsweise von Öl- und Gasheizungen oder des fossilen Pkw-Bestands, notwendig wäre, um die Klimaziele auf diesem Wege zu erreichen.
Der Rat fordert eine harte Begrenzung zulässiger Emissionsmengen. Politische Steuerung hätte dann nicht mehr die primäre Aufgabe, Emissionen zu steuern, sondern die dafür umso größere Herausforderung, den Wandel so zu gestalten, dass er für Wirtschaft und Gesellschaft ökonomisch und verteilungspolitisch tragfähig ist.
schließenDie Politik finanziert großzügig Programme zur Neuschaffung einer Wasserstoffwirtschaft ohne Berücksichtigung von physikalischen Zusammenhängen und technischen Grenzen. Die von Fördergeldempfängern hochstilisierte Idee, Wasserstoff als universellen Wunderenergieträger zu nutzen, der unsere Energieprobleme löst, wird an der Energiebilanz der Wasserstoffkette scheitern. weiter lesen
Das falsche Versprechen einer Wasserstoffwirtschaft
Die Politik finanziert großzügig Programme zur Neuschaffung einer Wasserstoffwirtschaft ohne Berücksichtigung von physikalischen Zusammenhängen und technischen Grenzen. Die von Fördergeldempfängern hochstilisierte Idee, Wasserstoff als universellen Wunderenergieträger zu nutzen, der unsere Energieprobleme löst, wird an der Energiebilanz der Wasserstoffkette scheitern.
Von Dr. Ulf Bossel
(20. Juni 2022) Nur Energie aus erneuerbaren Quellen kann der Menschheit langfristig und klimaneutral dienen. Die aus Wind, Sonne und Wasser geerntete Energie steht allen Sektoren in hochwertigster Form als elektrischer Strom nahezu unbegrenzt zur Verfügung. Für den Transport dieses grünen Primärstroms von der Quelle zum Energieverbraucher gibt es mehrere Wege mit unterschiedlichen Energiebilanzen.
Dr. Ulf Bossel studierte Maschinenbau an der ETH in Zürich, promovierte an der University of California in Berkeley, dozierte als Professor an der Syracuse University (New York), war in leitender Funktion für das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) tätig und ist Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Sonnenenergie (DGS). Bossel lebt in der Schweiz und ist freischaffender Innovationsberater für Brennstoffzellentechnik sowie nachhaltige Energielösungen.
Zur Verwirklichung der Energie- und Klimawende muss deshalb stets die Frage beantwortet werden: „Wie kann mit einer Kilowattstunde grünem Primärstrom am meisten Nutzen generiert werden“? Dazu sind Energiewandlungsketten miteinander zu vergleichen. Die Wirkungsgrade der einzelnen Wandlungsschritte sind bekannt. Man kann für jede dieser Übertragungsketten die Gesamtenergiebilanz „von der Wiege bis zur Bahre“ erfassen und das zukünftige Energiesystem gezielt für eine möglichst hohe Gesamteffizienz und damit langfristig niedrige Kosten optimieren. Leider ist die Energiebilanz der Wasserstoffnutzung nicht Teil der öffentlichen Diskussion – gleichwohl die Energiedepesche seit Jahren regelmäßig über diesen Aspekt berichtet (siehe „Gedanken zur Wasserstoffbegeisterung“; „Wasserstoff: Joker für die Energiewende?“; „Milliarden für Wasserstoff“ und „Wasserstoffmobilität als Königsweg?“).
Sinn und Notwendigkeit
Wasserstoff ist für die Gestaltung der Energiewende ein unbequemer Energieträger. Die Wasserstoffversorgung beginnt mit der Beschaffung und Destillation von rund 9 Liter Wasser pro Kilogramm zu erzeugendem H2 für die Elektrolyse. Der mit einem Wirkungsgrad von rund 70 Prozent erzeugte Wasserstoff muss mehrfach komprimiert, verteilt beziehungsweise transportiert und umgefüllt werden. Im Endbereich wird er wieder in Strom verwandelt oder verheizt. Alle Wandlungsschritte sind mit Energieverlusten oder zusätzlichem Energiebedarf verbunden.
Die bereits im Jahr 2002 auf dem European Fuel Cell Forum in Luzern unter dem Titel „The Future of the Hydrogen Economy: Bright or Bleak?“ vorgetragene Energieanalyse einer Wasserstoffwirtschaft ist im Auftrag des Fraunhofer-Instituts für Technikfolgeabschätzung übersetzt und im Jahr 2010 vom Leibniz-Institut frei zugänglich veröffentlicht worden. Basierend auf diesen Ergebnissen wird im Folgenden exemplarisch dargestellt, welchen Nutzen man aus grünem Primärstrom ziehen kann, wenn man ihn direkt über bestehende Leitungen verteilt oder indirekt über Wasserstoff verwertet.
Nachhaltige Wärmeerzeugung
Eine erneuerbar erzeugte Kilowattstunde (kWh) Strom kann über bestehende Leitungsnetze mit vernachlässigbaren Verlusten verteilt und in Heizwärme umgewandelt werden. Man kann allerdings viel besser eine Wärmepumpe betreiben und erhält etwa drei bis vier kWh Wärme. Auch lässt sich mit dem grünen Primärstrom Wasser elektrolytisch spalten. Der so erzeugte Wasserstoff wird im Erdgasnetz verteilt und in Heizkesseln verbrannt. In diesem Fall müssen mit dem grünen Primärstrom alle zuvor genannten Wandlungsschritte energetisch bedient werden. Lediglich die Hälfte der Originalenergie steht noch für die Erzeugung von Nutzwärme zur Verfügung. Der Vergleich mit den zwei anderen Optionen ist vernichtend: Eine grüne Kilowattstunde liefert mit Wärmepumpe 3 bis 4 kWh, mit einem Widerstandsheizer 1 kWh aber über Wasserstoff nur gut 0,5 kWh nutzbare Heizwärme. Es ergibt folglich keinen Sinn, aus grünem Primärstrom Wasserstoff für Heizzwecke zu erzeugen. Die mit grünem Strom betriebene elektrische Wärmepumpe ist der klare Sieger für eine nachhaltige Wärmeerzeugung.
Nachhaltige Mobilität
Die Lieferkette von Wasserstoff im Mobilitätssektor unterscheidet sich geringfügig von der Wasserstoffverteilung als Brenngas. Der bei mittlerem Druck über Rohrleitungen oder Tanklastwagen verteilte Wasserstoff muss an Tankstellen zum Befüllen von Fahrzeugtanks noch einmal auf rund 700 bar verdichtet werden. Dort angekommen, werden wiederum nur rund 50 Prozent der getankten Energie über eine Brennstoffzelle als Nutzenergie in Form von Strom zur Verfügung gestellt. Der Gesamtwirkungsgrad der Wasserstoffkette liegt für eine Mobilitätsnutzung bei nur etwa 20 Prozent. Vom grünen Primärstrom sind bei einem Batteriefahrzeug hingegen über 80 Prozent für den Fahrzeugantrieb nutzbar. Mit dem grünen Strom, der für den Betrieb eines Wasserstoff-Brennstoffzellen-Fahrzeugs benötigt wird, können also beinahe vier gleichwertige Fahrzeuge mit Batterie betrieben werden. Im Fahrzeugbereich kann Wasserstoff deshalb grundsätzlich keine Zukunft haben. Nicht nur die hohen Energieverluste, sondern auch die enormen Investitionskosten verhindern, dass sich Wasserstoff gegenüber grünem Strom im freien Markt behaupten kann. Eindeutiger Sieger ist auch hier der elektrische Weg. Lediglich für den Verkehr auf langen Strecken zu Luft und zu Wasser wird man im Hinblick auf die notwendige Energiedichte künstlich erzeugte Energieträger einsetzen müssen.
Synthetische Kraftstoffe
Die auch als „Power-to-Gas“ oder „Power-to-Liquid“ bekannten Verfahren zur Herstellung synthetischer Kraftstoffe sind ebenfalls sehr energieintensiv. Der Gesamtwirkungsgrad für die Herstellung synthetischer Kraftstoffe liegt unter 15 Prozent. Beim Einsatz dieser grünen Kraftstoffe gehen noch einmal rund 50 Prozent verloren. Auf die Straße, eine Schiffsschraube oder ein Flugzeugtriebwerk gebracht werden somit im Ergebnis deutlich weniger als 10 Prozent der grünen Primärenergie. Mit dem grünen Primärstrom, der für synthetisch hergestellte „grüne“ Kraftstoffe benötigt wird, könnte man mehr als zehn Batteriefahrzeuge mit Strom versorgen. Auch hier ist der direkte elektrische Weg der klare Sieger – sofern er einsetzbar ist.
Wasserstoff in Gaskraftwerken
Ferner soll grüner Wasserstoff den Verheißungen nach eine CO2-freie Stromerzeugung in Gaskraftwerken sicherstellen. Hier gelten zuerst einmal die bereits für den Mobilitätssektor beschriebenen Wirkungsgrade. Vom grünen Primärstrom, der als Wasserstoff verteilt und in einem Gaskraftwerk wieder in Strom verwandelt wird, bleiben also nur noch etwa 20 Prozent als Nutzstrom übrig. Für eine Energieverteilung mit Wasserstoff müssen folglich rund viermal mehr Wind- oder Solarkraftanlagen errichtet werden als für eine direkte Stromversorgung über bestehende Netze. Auch hier ist die direkte Netzeinspeisung des grünen Stroms der eindeutige Sieger.
Energiespeicherung
Lediglich die Speicherung von Sommersonnenstrom für Dunkelflauten und die Wintermonate ist eine bisher ungelöste Aufgabe. Aber auch in diesem Fall können nur etwa 20 Prozent der eingesetzten Energie zurückgewonnen werden. Wegen der geringen volumetrischen Energiedichte von Wasserstoff werden zudem massive Speichertanks und Kavernen benötigt. Wirtschaftliche Lösungen sind keine in Sicht. Daher sollte zunächst der Energiebedarf im Winter durch eine bessere Gebäudeisolation und organisatorische Maßnahmen drastisch gesenkt werden, damit eine ineffiziente saisonale Wasserstoffspeicherung der im Sommer geernteten Sonnenenergie machbar wird.
Chemische Anwendungen
Bei allen chemischen Prozessen, die heute mit fossilen Brennstoffen durchgeführt werden, kann grüner Wasserstoff den CO2-Ausstoß stark vermindern. Energie wird jedoch vor allem für die Beheizung der Reaktoren eingesetzt. Nur ein kleiner Teil des Brennstoffs wird für den eigentlichen chemischen Prozess benötigt. Die vollständige Substitution der fossilen Brennstoffe würde zu einem enormen Wasserstoffbedarf führen. Als nachhaltige Lösung bietet sich eine Trennung von Aufheizung und Reaktionschemie an. Mit grünem Strom wird geheizt, mit grünem Wasserstoff wird reduziert. In diesem Fall wird grüner Strom effizient genutzt und der energieintensiv erzeugte Wasserstoff nur zur chemischen Reaktion verwendet. Wieder ist die elektrische Beheizung mit grünem Strom besser als die plumpe Substitution der für den Gesamtprozess eingesetzten fossilen Energieträger durch Wasserstoff. Man könnte weitere Beispiele zitieren. Alle haben eines gemeinsam: Grüner Wasserstoff ist nur sinnvoll, wenn er in Reduktionsprozessen kohlenstoffhaltige Energieträger ersetzt, was Strom für sich genommen nicht kann.
Fazit
Alle genannten Beispiele verdeutlichen, dass Wasserstoff ein für die Energiewende problematischer Energieträger ist. Denn mit grünem Strom und dem bestehenden Stromnetz lässt sich saubere Energie aus Sonne, Wind und Wasser wesentlich effizienter und kostengünstiger nutzen. Nur in den Fällen, in denen eine direkte Nutzung nicht möglich ist, kann der Umweg über Wasserstoff eine vertretbare Lösung darstellen. Die Energiewende wird daher nicht mit einer „Wasserstoffwirtschaft“ gelingen, sondern mit einer „Elektronenwirtschaft“. Denn die Infrastruktur für eine Elektronenwirtschaft existiert bereits und muss nur teilweise ergänzt oder ertüchtigt werden.
Notwendig ist zudem eine rationellere Stromnutzung im Endbereich. So führt insbesondere der Austausch von Heizkesseln durch elektrische Wärmepumpen gleicher Heizleistung zu einem Strommangel im Winter. Notwendig ist es daher, Gebäude energetisch zu sanieren bevor man den Öl- oder Gaskessel durch kleinere Wärmepumpen ersetzt. Ebenso muss im Bereich der Chemie, soweit möglich, Strom zu Heizzwecken eingesetzt werden, der durch geringe Mengen an wertvollem Wasserstoff ergänzt werden kann. Solche organisatorischen Maßnahmen müssen vom Gesetzgeber behandelt werden und nicht die Verteilung von Geldern im Gießkannenprinzip zum Aufbau einer ineffizienten und teuren Wasserstoffwirtschaft. Unsere Energie- und Klimaprobleme lassen sich gemeinsam mit grünem Strom und begleitenden Sparmaßnahmen lösen. Mit zeitraubenden, aufwendigen und energetisch fragwürdigen Umwegen über Wasserstoff – in Bereichen, wo diese nicht notwendig sind – wird die drohende Klimakatastrophe hingegen kaum zu vermeiden sein. Die Politik muss schnellstens umdenken, bevor die Weichen in Richtung Sackgasse gestellt sind.
schließenKlima- und Verbraucherschutz sind keine Gegensätze, sondern bedingen und verstärken sich. Ein rascher Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft zu einer klimaneutralen Gesellschaft liegt im Verbraucherinteresse. Klimaschutz ist gut verstandener Verbraucherschutz. Verbraucher werden von Betroffenen zu aktiven Gestaltern und Nutznießern des Wandels. weiter lesen
Klimaschutz ist praktizierter Verbraucherschutz
Klima- und Verbraucherschutz sind keine Gegensätze, sondern bedingen und verstärken sich. Ein rascher Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft zu einer klimaneutralen Gesellschaft liegt im Verbraucherinteresse. Klimaschutz ist gut verstandener Verbraucherschutz. Verbraucher werden von Betroffenen zu aktiven Gestaltern und Nutznießern des Wandels.
Von Dr. Aribert Peters
(14. Juni 2022) Der sechste Bericht des Weltklimarats hat deutlich gemacht: Bis zum Jahr 2030 müssen weltweit die Emissionen halbiert werden, um die 1,5-Grad-Grenze zu erreichen. Diesem Ziel hat sich auch die neue Bundesregierung verpflichtet (siehe „Koalitionsvertrag durchleuchtet“). Es gibt mittlerweile einen breiten gesellschaftlichen Konsens darüber, dass eine umfassende Energiewende basierend auf CO2-freien Technologien dringend nötig ist, um der gefährlichen Klimakrise abzuhelfen und heikle Abhängigkeiten von fossilen Energielieferungen aus dem Ausland zu reduzieren.
Energieverbraucher wollen eine langfristig sichere, umweltfreundliche und auch günstige Energieversorgung. Sonne und Wind stellen in Deutschland genug Energie bereit. Ihre Nutzung ist bereits seit Jahren kostengünstiger als fossile Energiequellen. Selbst dann, wenn man nur die Brennstoffkosten fossiler Kraftwerke betrachtet und ihre Umweltfolgekosten ignoriert. Darüber hinaus steigen die Preise konventioneller Energien seit Jahren und ihre Verfügbarkeit sinkt. Aber auch das Energiesparen lohnt sich: Die Errichtung von im Bau zunächst teureren, aber dafür besser gedämmten Passivhäusern rechnet sich über die Lebensdauer betrachtet aufgrund langfristiger Einsparungen fast immer – meist sogar schon nach 10 bis 20 Jahren und danach sparen die Besitzer effizienter Häuser Jahr für Jahr viel Geld.
Transformation als Prozess
Klimaschutz ist nicht damit erledigt, dass energieintensive SUV von Diesel auf große Batterien umgerüstet werden und Gasheizungen in schlecht gedämmten Gebäuden durch Wärmepumpen ersetzt werden. Vielmehr bedeutet Klimaschutz, dass alle Bereiche der Gesellschaft sich tiefgreifend und rasch verändern, effizienter und gerechter werden und sich unter dem Ziel des Klimaschutzes neu finden. Denkt man dies weiter, wird klar, dass Autos nicht mehr als Einkaufspanzer mit der Stirnfläche einer Schrankwand, sondern dem tatsächlichen Bedarf entsprechend kleiner und windschnittiger gebaut werden und dann mit viel kleineren Motoren und Batterien auskommen, die weniger Ressourcen verbrauchen. Bei Häusern wiederum muss neben dem bloßen Heizungstausch auch beim Energiebedarf und damit bei Dämmung und Wärmeschutz angesetzt werden.
Kosten und Potenziale
„Knapp sind nicht die erneuerbaren Energien, knapp ist die Zeit“, schrieb Hermann Scheer, Solarvisionär und Träger des Alternativen Nobelpreises bereits im Jahr 2005. Die Potenziale der Erneuerbaren sind gewaltig, auch in Deutschland – auf jeden einzelnen Quadratmeter Deutschlands strahlt die Sonne mit einer Energie, die übers Jahr gemittelt 100 Liter Öl entspricht.
Das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) hat im Juni 2021 in einer Studie die Stromgestehungskosten erneuerbarer Energien mit denen konventioneller Energien verglichen. Die Untersuchung zeigt deutlich, dass die Stromgestehungskosten von erneuerbaren Energien inzwischen unter den Betriebskosten von konventionellen Kraftwerken liegen. Geringere Betriebskosten von Solar und Wind gleichen die im Vergleich mit konventionellen teilweise höheren Investitionskosten mehr als aus.
Besonders interessant ist eine Betrachtung des über die Jahre anhaltenden Preisverfalls von PV-Anlagen. Zwischen 1990 und 2020 sind die Kosten um mehr als 90 Prozent gesunken. Aufschlussreich ist auch, dass die Ausbauprognosen für Photovoltaik, selbst in Szenarien, die von einem hohen technischen Fortschritt ausgingen, stets aufs Neue deutlich übertroffen wurden und aus diesen Prognosefehlern bis heute nicht gelernt wurde. Stets wird davon ausgegangen, dass die Erneuerbaren weltweit an ihrem Zenit stünden – und im nächsten Jahr hat sich die Leistung ganz überraschend doch wieder verdoppelt.
Das entscheidende Argument gegen die erneuerbaren Energien hat sich also umgewandelt in ein Argument für die Erneuerbaren. Konnte man früher noch Verbraucher- gegen Umweltschutz ausspielen, so ist das nun vorbei. Verbraucher- und Umweltschutz verlangen gleichermaßen nach günstigen und umweltfreundlichen Energiequellen. Das sind unzweifelhaft die Erneuerbaren.
Das EEG-Paradoxon
Mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz finanzieren Verbraucher seit dem Jahr 2000 den Ausbau erneuerbarer Energien in Deutschland. Die Idee war damals bestechend einfach: Die Betreiber von Wind- und PV-Anlagen erhalten einen auf 20 Jahre festgeschriebenen Preis für den von ihnen ins Netz eingespeisten Strom. Diese Vergütungskosten werden auf alle Stromverbraucher aufgeteilt und als EEG-Umlage auf den Strompreis aufgeschlagen. Dieses System war so erfolgreich, dass bisher rund 2.000.000 PV-Anlagen und 30.000 Windkraftanlagen mit einer maximalen Peakleistung von 122 GW gebaut wurden. Verbraucher haben durch die Abnahmevergütung für erneuerbaren Strom und die von ihnen aufgebrachte EEG-Umlage erreicht, dass die Erzeugungskosten erneuerbaren Stroms in Deutschland und weltweit drastisch gesunken sind – auch für die Industrie, die von einer Kostentragung durch die Politik stets großzügig befreit wurde. Ein großes Geschenk deutscher Verbraucher an die Menschheit.
Aufgeschreckt durch die jährlich rasch anwachsenden Mengen erneuerbaren Stroms und den schnellen Zubau neuer Grünstromanlagen wurde das EEG unter dem Einfluss der Fossil-Lobby ab dem Jahr 2012 von einem Förder- zu einem Bremsinstrument umgebaut:
- Die Vergütungen wurden im Jahr 2012 plötzlich drastisch gesenkt. Viele im Bau befindliche Anlagen wurden wirtschaftlich hart getroffen. Noch härter traf es die deutsche Solarwirtschaft. Zahlen des Bundeswirtschaftsministeriums zufolge hat sich die Zahl der Beschäftigten in der PV-Industrie zwischen 2012 und 2013 halbiert – in nur einem Jahr wurden 50.000 Arbeitsplätze vernichtet.
- Das Ausbauvolumen Erneuerbarer wurde durch einen „Deckel“ begrenzt. Anstelle eines möglichst schnellen Ausbaus wurde ein möglichst langsamer Ausbau angestrebt.
- Die gesetzlichen Regelungen des EEG wurden immer komplizierter. Das Gesetz wurde im Jahr 2000 mit nur 12 Paragraphen eingeführt und war klar verständlich. 22 Jahre später hat das Gesetz über 180 Paragraphen und besteht in weiten Teilen aus Verweisen auf andere Paragraphen, Formeln und Anhängen. Wer im Gesetz nach einer aktuellen Einspeisevergütung sucht, wird diese nicht mehr finden – die Vergütungen müssen von Experten errechnet und durch die Bundesnetzagentur veröffentlicht werden. Jeden Monat gibt es dutzende neue Vergütungssätze.
- Vergütungen werden für größere Anlagen nur noch gewährt, wenn sich die potenziellen Betreiber bei mengenmäßig begrenzten „Ausschreibungen“ durchsetzen konnten. Nur kleine Anlagen erhalten noch feste Vergütungen.
- Der erneuerbar erzeugte Strom, dessen Ausbau durch das EEG gefördert werden soll, wurde selbst mit der EEG-Umlage belastet und dadurch verteuert. Mieterstrom konnte sich aus diesem Grund bis heute nicht durchsetzen.
- Seit 2012 muss der eingespeiste Strom an der Strombörse vermarktet werden. Das zog die Börsenpreise insgesamt nach unten. Und die EEG-Umlage, berechnet als Differenz zwischen Einspeisetarif und Börsenvergütung, stieg für Verbraucher. Und zwar doppelt so schnell wie die an Anlagenbetreiber gezahlten Vergütungen.
Subventionierte Industrie
Großverbraucher wie Industriebetriebe konnten von günstigen Preisen an der Strombörse profitieren. Zudem sind sie von vielen Abgaben und Steuern befreit. Privatverbraucher mussten die höheren EEG-Vergütungen über ihren Strompreis aufbringen, konnten jedoch kaum von den gesunkenen Börsenpreisen profitieren. Der Mittelstand und private Verbraucher sind nicht nur mit steigenden Stromkosten und zusätzlich der EEG-Umlage belastet, sondern es wurde ihnen zudem gegen jede Vernunft erschwert, sich selbst mit erneuerbarem Strom zu versorgen. Gewerbekunden, die eine PV-Anlage größer 30 kWp betreiben, müssen beispielsweise auf ihren selbst erzeugten Strom EEG-Umlage an den Netzbetreiber zahlen. Mit dem ersten Entwurf zum EEG 2022 wird der Ausbau erneuerbarer Energien nicht grundsätzlich erleichtert. Selbst die groß angekündigte Abschaffung der EEG-Umlage ist bei genauer Betrachtung nur eine Aussetzung, die unter dem Vorbehalt der jährlich neu zu entscheidenden Kostenübernahme durch den Bundeshaushalt steht.
Konventionelle Energien
Die Kosten von Öl, Gas, Strom und Benzin steigen derzeit rapide. Zwischen Oktober 2020 und Oktober 2021 sind laut Verivox die Energiepreise für einen Beispielhaushalt von 3.371 auf 4.549 Euro gestiegen, also ein Anstieg um 1.178 Euro. Basis für diese Berechnung ist ein Musterhaushalt mit drei Personen, 20.000 kWh Wärmebedarf, 4.000 kWh Strombedarf und 13.000 km jährliche Fahrleistung.
Über die explodierenden Energiepreise berichtete die Energiedepesche bereits ausführlich in Ausgabe „Dramatische Energiepreisexplosion“. Und auch seit Oktober 2021 sind die Preise weiter drastisch gestiegen – siehe „Energiepreise auf Achterbahnfahrt“.
In den vergangenen Jahren waren die Energiepreise ständig gesunken, vom Strompreis einmal abgesehen. Die derzeitigen Energiepreise für Öl, Gas und Benzin liegen also heute auf einem Niveau, dass sie vor etlichen Jahren schon einmal hatten. Es gerät leicht in Vergessenheit, dass unsere Energieversorgung zu über 70 Prozent vom Import fossiler Energien aus dem Ausland abhängt, in erster Linie aus Russland. Und damit auch mit den Risiken von Preis und Verfügbarkeit behaftet ist. Wir hängen leider seit Jahrzehnten unverändert wie ein Junkie an der Nadel von Energieimporten ab.
Geändert hat sich daran seither kaum etwas. Die hohe Importabhängigkeit gefährdet nicht nur die Umwelt, sondern auch die Sicherheit der Energieversorgung. Allein schon unter diesem Gesichtspunkt ist der sofortige, schnelle Ausbau der Erneuerbaren ein Beitrag zum Verbraucherschutz.
CO2-Steuer unschuldig
Die CO2-Steuer wird gerne als Sündenbock für Preissteigerungen herangezogen. Zwar verteuert sie fossile Energie, jedoch bisher nur geringfügig im Vergleich zu den Energiepreiserhöhungen insgesamt. Der CO2-Preis von derzeit 30 Euro je Tonne CO2 verteuert Gas nur um rund 0,8 Cent pro Kilowattstunde, was rund 10 Prozent entspricht. Die Börsenpreise sind hingegen um bis zu 400 Prozent angezogen. Benzin und Diesel werden durch die CO2-Steuer mit rund 8 bis 9 Cent je Liter belastet. Die künftig steigende CO2-Steuer muss, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, an die Bürger rückerstattet werden und ist deshalb keine Steuer, sondern eine Lenkungsabgabe. Ein interessantes Beispiel ist die Schweiz. Dort wurde schon im Jahr 2008 eine Lenkungsabgabe auf fossile Brennstoffe eingeführt, die inzwischen auf 120 Franken pro Tonne CO2 angehoben wurde. Dadurch hat sich der Preis für einen Liter Heizöl um rund 34 Rappen erhöht. Ein Drittel der Einnahmen fließt in ein Programm zur energetischen Sanierung von Gebäuden. Zwei Drittel werden pro Kopf an die Bevölkerung und proportional zur Lohnsumme an die Unternehmen zurückgezahlt.
Träger des Wandels
Verbraucher sind nicht nur passive Nutznießer einer klimafreundlichen Gesellschaft. Sie sind auch diejenigen, die diesen Wandel aktiv gestalten und herbeiführen sollten:
- Ein tiefgreifender Wandel muss sich aus dem Inneren der Gesellschaft entwickeln und durchsetzen, er lässt sich nicht verordnen. Denn es geht um weit mehr als um die Energieversorgung.
- Die Verbraucher haben es in der Hand, durch ihre Kaufentscheidungen und ihr Verhalten den Erneuerbaren wesentlich zum Durchbruch zu verhelfen.
- Menschen sind nicht nur Verbraucher, sondern auch Eltern, Kinder, Angestellte, Mieter, Vermieter, Wähler und vieles mehr. In all diesen Funktionen können sie an der Umgestaltung mitwirken.
Der Solarvisionär Hermann Scheer schrieb im Jahr 2005: „Das Leitmotiv ist Energieautonomie. Es ist gleichermaßen politisch, wirtschaftlich und technologisch gemeint. Es ist, als verallgemeinerbares Konzept, nur mit erneuerbaren Energien möglich. Energieautonomie ist aber nicht nur das Ergebnis eines Wechsels zu erneuerbaren Energien, sondern zugleich der harte Kern der praktischen Strategie: Autonome Initiativen von Individuen, Organisationen, Unternehmen, Städten und Staaten sind geboten, um das Ganze zu bewegen. Die neue Politik für erneuerbare Energien ist, diesen Initiativen die Räume zu öffnen, in denen sie sich ungehindert entfalten können“. Der Verbraucher wird vom passiv Erleidenden zum aktiv Gestaltenden des Wandels.
Geschwindigkeit des Wandels
Die der Umgestaltung entgegenstehenden Strukturen sind nicht nur Gesetze, Verordnungen und eingeschliffene Verhaltensmuster, sondern auch die „Hardware“ der Gesellschaft, wie beispielsweise Straßen ohne Radwege, schlecht ausgebauter öffentlicher Verkehr, fehlende Schienen, marode Bahnhöfe, schlecht gedämmte Häuser und vieles mehr. Dies alles ist über Jahrzehnte in die falsche Richtung gewachsen und muss nun binnen weniger Jahre grundlegend umgestaltet werden.
Hermann Scheers schrieb dazu: „Wir brauchen den Energiewandel – jetzt und je schneller und je radikaler, desto besser. Wenn wir jetzt alle Kräfte mobilisieren und den Ausbau der Erneuerbaren ultimativ beschleunigen, kann die Energieversorgung bereits innerhalb von 25 Jahren vollkommen auf erneuerbare Energien umgestellt werden. Voraussetzung ist dabei, dass die Politik die Hemmnisse für das Wachstum der Erneuerbaren entfernt und den erneuerbaren Energien endlich den Stellenwert einräumt, der ihnen gebührt: Vorrang.“
Die notwendige Beschleunigung ist heute dringender denn je. Und sie ist auch technisch möglich. Die reinen Bauzeiten von PV-Anlagen betragen wenige Tage, die von Windkraftanlagen wenige Wochen. Was Jahre dauert, ist der Papierkrieg mit Behörden und die daraus resultierenden Planungs- und Genehmigungszeiten. Voraussetzung für deren raschen Ausbau ist daher, dass die bisherigen Stoppschilder für den Ausbau Erneuerbarer endlich beiseite geräumt werden. Eine Solaranlage zu bauen, sollte ebenso einfach sein, wie eine neue Spülmaschine anzuschließen.
Nur zum Vergleich: Die Bauzeiten von Kohle- und Atomkraftwerken erstrecken sich über Jahrzehnte. Frankreichs neuestes Atomkraftwerk „Flamanville 3“ befindet sich beispielsweise seit dem Jahr 2007 im Bau. Eine Fertigstellung ist bisher nicht abzusehen. Ständige Bau- und Sicherheitsmängel sowie Vertuschungsskandale füllen seit nun 15 Jahren die Zeitungen. Die Baukosten für nur dieses eine Kraftwerk summieren sich laut Zahlen des französischen Rechnungshofes auf 19,1 Milliarden Euro. Sollte der Atomstrom aus Flamanville irgendwann doch noch fließen, wird er ein Vielfaches dessen kosten, was erneuerbarer Strom kostet, der zudem die letzten 10 bis 14 Jahre bereits hätte fließen können.
Disruption
Die weltweiten Emissionen ließen sich zum Vorteil der Verbraucher noch schneller beenden als bisher vermutet. Ein Beispiel aus der Geschichte: Im Jahr 1900 gab es in New York kaum Autos. Im Jahr 1913 gab es hingegen kaum noch Pferdekutschen. In nur 13 Jahren verschwand das Pferd als Transportmittel völlig von den Straßen. Der US-Wirtschaftswissenschaftler Tony Seba spricht von Disruptionen. Disruptive Produkte schaffen neue Märkte, bisherige Produkte verschwinden und werden in kurzer Zeit völlig vergessen. So wie kürzlich die analoge Fotografie, davor die Schreibmaschinen, VHS- und Musikkassettenund Schallplatten.
Seba benennt acht bereits verfügbare disruptive Technologien in den Bereichen Energie, Verkehr und Ernährung, mit denen sich die weltweiten Emissionen sehr rasch vermindern ließen: Solar, Wind und Batterien könnten Öl, Kohle und Gas ersetzen. Autonome Elektrofahrzeuge und Transport auf Nachfrage werden Verbrennungsmotoren und privaten Autobesitz ablösen. Und im Labor hergestellte Fleisch- und Milchersatzprodukte tierische Produkte ersetzen. Dafür brauchen diese Techniken aber faire Marktbedingungen. Der Widerstand der alten Wirtschaftszweige und Monopole muss gebrochen werden. Die disruptiven Techniken dürfen nicht ausgebremst, sondern müssen gefördert werden. Auch in der neuen Bundesregierung sind die Bremser noch am Werk (siehe „Koalitionsvertrag durchleuchtet“).
Außerparlamentarische Bewegungen bauen ein Gegengewicht zur Industrielobby auf und stärken die Demokratie. So wie hier beim Klimaprotest von BürgerInnen und SchülerInnen in Bad Honnef am 25. März 2022.
Systemänderung
Wir sind damit in der Mitte einer Debatte angekommen, in der es um den Anstoß gesellschaftlicher Änderungen und das Ende der Wachstumsgesellschaft geht. Auch hier gehen die Impulse von Bürgern und Verbrauchern aus. Denn allzu lange wurde der Durchbruch erneuerbarer Energien von der unter massivem Lobbyeinfluss agierenden Bundesregierung verzögert. Es geht deshalb um eine Verlagerung der politischen Macht, weg von den Lobbyisten und Ministerialapparaten hin zu den Verbrauchern und Bürgern, daher weg von zentralen und hin zu örtlichen Entscheidungen.
Die Mitgründerin der Grünen, Petra Kelly, schrieb dazu vor bereits 40 Jahren: „Indem in die lokalen, regionalen und zentralen Parlamente der Bürgerwillen nicht nur alle Schaltjahre in Form eines Kreuzchens auf einem politischen Blankoscheck eingebracht wird, sondern sich in vielfältigen außerparlamentarischen Bürgerinitiativen, Mitbestimmungsgremien und Selbstverwaltungsorganen äußert, wird überhaupt erst eine demokratische Infrastruktur geschaffen. Die repräsentative Demokratie wird dadurch nicht vernichtet oder geschwächt, sondern im Gegenteil gestärkt und dynamisch stabilisiert“, so Petra Kelly in ihrem Buch „Um Hoffnung kämpfen“ aus dem Jahr 1982.
Soziale Normen statt Gesetze
Fairness lässt sich leicht durchsetzen, wenn viele Leute bereit sind, unfaires Verhalten zu bestrafen. Wenn sich eine Norm klimagerechten Verhaltens etabliert hat, dann wird sie sich weitgehend von selbst durchsetzen. Kaum jemand wird mehr einen SUV fahren, ein Kurzstreckenflugticket kaufen oder ein dickes Steak bestellen, wenn er sich der Missbilligung der meisten anderen Menschen sicher sein kann. Das ist wesentlich effektiver als der Erlass von Gesetzen. Psychologen haben entdeckt, dass eine solche „altruistische Bestrafung“ die Lustzentren zum Schwingen bringt. Die „Bestrafer“ sind dafür sogar bereit, Kosten und Zeit in die Bestrafung zu investieren. Altruistische Bestrafung ist möglicherweise ein Schlüsselelement, um das beispiellos hohe Kooperationsniveau menschlicher Gesellschaften zu erklären.
Die breite Diskussion in der Gesellschaft über die schon überall spürbare Klimakrise, ihre Folgen und mögliche Lösungen sind deshalb sehr wichtig. Eine andere Vorstellung unserer Zukunft wird sichtbar durch sogenannte Erzählungen oder Narrative. Das Umweltbundesamt hat solche Erzählungen über eine andere Zukunft erarbeitet. Erzählungen einer klima- und verbraucherfreundlichen Gesellschaft.
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Atom- und Kohleausstieg: Schmutzige Kraftwerke abgeschaltet
Von Louis-F. Stahl
(23. Mai 2022) Zum 31. Dezember 2021 wurden die Atomkraftwerke Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen C sowie die Braunkohleblöcke Neurath B, Niederaußem C und Weisweiler E abgeschaltet. Am 1. April 2022 folgte der Braunkohleblock Neurath A. Die Stilllegungen erfolgten entsprechend den Fahrplänen des Kohleverstromungsbeendigungsgesetzes sowie des Atomausstiegsgesetzes.
Damit sind in Deutschland aktuell nur noch die drei Atommeiler Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 am Netz. Deren Abschaltung hat entsprechend dem Atomausstiegsgesetz bis zum 31. Dezember 2022 zu erfolgen. Mit Ausbruch des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine wurden zuweilen Laufzeitverlängerungen und ein Wiederanfahren der zum Jahreswechsel abgeschalteten AKW gefordert. Der Präsident des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE), Wolfram König, strafte die Forderungen mit dem Urteil ab, dass diese „intellektuell nur schwer nachvollziehbar“ seien. Die Betreiber der bereits abgeschalteten Kraftwerke wiesen Forderungen nach einem Wiederanfahren unter Verweis auf fehlende Brennelemente, abgelaufene Sicherheitsüberprüfungen, mangelndes Personal und weitere Sachgründe entschieden zurück. Auch ein Weiterbetrieb der noch laufenden AKW über den geplanten Abschalttermin am 31. Dezember 2022 sei nicht möglich, da Brennelemente Lieferzeiten von rund zwei Jahren hätten und die erforderlichen Maßnahmen für ein Bestehen der notwendigen „Periodischen Sicherheitsüberprüfungen“ nach aktuellem Stand der Technik schier Unsummen kosten würde. Unbeirrt von diesen Sachargumenten forderte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) den Konzern E.on als Betreiber des AKW Isar 2 abermals auf, eine Laufzeitverlängerung des noch in Betrieb befindlichen Reaktors um fünf Jahre zu prüfen. Die Antwort des E.on-Vorstandsvorsitzenden Leonhard Birnbaum könnte unmissverständlicher kaum ausfallen: „Atomkraft hat in Deutschland keine Zukunft, Punkt!“
Im Koalitionsvertrag haben SPD, Grüne und FDP festgeschrieben, was sie gemeinsam als Bundesregierung bis zum Jahr 2025 erreichen wollen. Zu den Kernpunkten zählen „idealerweise“ ein schnellerer Kohleausstieg bis 2030 und mehr Tempo beim Ausbau der Erneuerbaren. weiter lesen
Koalitionsvertrag durchleuchtet
Im Koalitionsvertrag haben SPD, Grüne und FDP festgeschrieben, was sie gemeinsam als Bundesregierung bis zum Jahr 2025 erreichen wollen. Zu den Kernpunkten zählen „idealerweise“ ein schnellerer Kohleausstieg bis 2030 und mehr Tempo beim Ausbau der Erneuerbaren. Was steht sonst noch drin? Und wie ist das zu bewerten?
Von Dr. Aribert Peters
(16. Mai 2022) Direkt in einem der ersten Absätze der Vereinbarung steht unmissverständlich: „Die Klimaschutzziele von Paris zu erreichen, hat für uns oberste Priorität. Klimaschutz sichert Freiheit, Gerechtigkeit und nachhaltigen Wohlstand.“ An dieser Aussage wird sich die neue Regierung zum Ende ihrer Amtszeit messen lassen müssen.
Was steht drin?
Die Koalitionsparteien bekennen sich in der Vereinbarung zur 1,5-Grad-Grenze und wollen „Hürden für den Ausbau erneuerbarer Energien aus dem Weg räumen“. „Schritt für Schritt“ soll das „fossile Zeitalter beendet werden“, auch indem der „Kohleausstieg idealerweise auf 2030 vorgezogen“ wird. Im Verkehrssektor wollen die Koalitionäre „die Technologie des Verbrennungsmotors hinter [sich] lassen“, wobei allerdings ein Verbot von Verbrennerfahrzeugen nicht vorgesehen ist. Auch „ein generelles Tempolimit wird es nicht geben“. „Das Klimaschutzgesetz soll noch im Jahr 2022 konsequent weiterentwickelt und ein Klimaschutzsofortprogramm mit allen notwendigen Gesetzen“ auf den Weg gebracht werden. Vornehmlich sollen „alle geeigneten Dachflächen künftig für Solarenergie genutzt werden“. „Für die Windenergie an Land sollen zwei Prozent der Landfläche ausgewiesen werden.“ Die Koalitionäre wollen im Energiesektor ferner „auf einen steigenden CO2-Preis als wichtiges Instrument, verbunden mit einem starken sozialen Ausgleich [setzen] und dabei insbesondere Menschen mit geringeren Einkommen unterstützen“. Die Belastung von Energie mit Steuern und Abgaben soll insgesamt neu geregelt werden und ein „neues Strommarktdesign“ geschaffen werden, wobei „Unternehmen insgesamt nicht mehr belastet werden“ sollen.
Zusammenfassend lässt sich folglich festhalten, dass die Energiewende beschleunigt werden soll, ohne Verbraucher oder Unternehmen zu belasten.
Werden die Klimaziele eingehalten?
Gutachter von DIW Econ, das zum Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung gehört, haben im Auftrag der Klima-Allianz Deutschland eine Analyse des Koalitionsvertrages durchgeführt und kommen zu dem Ergebnis, dass der Koalitionsvertrag „das ambitionierteste Klimaschutzprogramm [enthält], das jemals eine Bundesregierung vorgelegt hat.“ Die Studie des DIW Econ kommt aber gleichwohl auch zu dem Schluss, dass „Deutschland […] das im Koalitionsvertrag festgehaltene 1,5-Grad-Ziel deutlich verfehlen wird, wenn die Ambitionen in den nächsten Jahren nicht über das Niveau des Koalitionsvertrages hinaus erhöht werden.“ Oder anders gesagt: Das wohlklingendste und ambitionierteste Klimaschutzprogramm, das je eine Bundesregierung vorgelegt hat, ist bei Weitem nicht ausreichend, um die bereits bisher im Klimaschutzgesetz definierten Ziele zu erreichen und wird noch viel weniger ausreichen, um die 1,5-Grad-Grenze von Paris einzuhalten.
Q&A: What does the new German coalition government mean for climate change?
Erste Bilanz: Ein Kommentar
Von Louis-F. Stahl
Nach 100 Tagen ist von einer Umsetzung der Ziele aus dem Koalitionsvertrag kaum etwas zu spüren. Ganz im Gegenteil scheinen sich die Koalitionäre stets nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner verständigen zu können – oder mit konkreten Einzelmaßnahmen in verschiedene Richtungen zu steuern. Im aktuellen Entwurf zur „großen Novelle“ des Erneuerbare-Energien-Gesetzes ist von einer Beschleunigung der Energiewende wenig zu sehen. Weder beim lange zum Erliegen gekommenen Offshore-Windausbau noch bei der Windkraft an Land oder Photovoltaikanlagen auf Gebäudedächern gibt es weitreichende Verbesserungen. Ganz im Gegenteil: Atom- und Kohlestrom sind an der Strombörse seit Amtsantritt der neuen Regierung teilweise doppelt bis sechsmal so viel wert, wie Hausbesitzer für den Strom aus PV-Anlagen erhalten. Gerechte marktorientierte Vergütung? Anreize zum Ausbau? Anzeichen für eine grundlegende Korrektur? Entbürokratisierung? Nein, das gibt es nicht, aber angehobene „Deckel“, neue „Pfade“ sowie „Ziele“ und die Aussage, dass Erneuerbare jetzt „im überragenden öffentlichen Interesse liegen und der öffentlichen Sicherheit dienen“. Der letzte Punkt könnte zumindest im Planungsrecht Feldhamster- und Rotmilanblockaden sowie andere Stilblüten beenden. Wie aber die Ziele erreicht werden sollen, wenn am Inhalt des Gesetzes nichts wesentlich verbessert wird? Warum das Gesetz überhaupt noch „Deckel“ für den Ausbau Erneuerbarer definiert, wo wir doch so schnell es nur geht an allen Ecken und Enden ausbauen müssten, um auch nur die in den vergangenen Jahren definierten Ziele ansatzweise erreichen zu können? Unklar!
Bürger für schnellere Energiewende weiter lesen
Umfrage: Bürger für schnellere Energiewende
Von Daniela Roelfsema
(13. Dezember 2021) In einer repräsentativen Umfrage des Kopernikus-Projekts Ariadne, durchgeführt von Forsa und dem Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung, zum „Sozialen Nachhaltigkeitsbarometer 2021“ wurden rund 6.800 BürgerInnen unter anderem zur Energiewende befragt.
Über 90 Prozent der Befragten befürworten Photovoltaikanlagen auf Hausdächern und über 73 Prozent der BürgerInnen befürworten die Energiewende insgesamt. Die Umfrage zeigt aber auch eine deutliche Unzufriedenheit mit der politischen Umsetzung: 59 Prozent der Befragten gaben an, dass ihnen die Energiewende deutlich zu langsam voranschreite. Zu den am meisten genannten Adjektiven in diesem Zusammenhang zählen „bürgerferne“, „ungeplante“ sowie „unverständliche“ politische Entscheidungen, die zu einer unnötig „teuren“ Energiewende führen. Nur 19 Prozent der Befragten waren der Meinung, die Energiewende würde hierzulande „gerecht“ stattfinden. Als größte Probleme im Zuge der Energiewende machten die Befragten „Bürokratie“, einen „zu langsamen Ausbau der Erneuerbaren“ und „politische Uneinigkeit“ sowie „widersprüchliche politische Entscheidungen“ aus.
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Bürgerrat Klimaschutz in Frankreich: Änderung scheitert
Von Louis-F. Stahl
(30. November 2021) Frankreich wollte es genau wissen: Ein zufällig zusammengestellter Bürgerrat erarbeitete Vorschläge zum Klimaschutz. Dazu zählte auch die Forderung, Klimaschutz in der Verfassung des Landes als Staatsziel zu verankern. Diese Forderung traf auf Zustimmung der Regierung und des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der bereits ankündigte, alle Bürgerinnen und Bürger in einer Volksabstimmung über die Änderung der Verfassung entscheiden lassen zu wollen. Artikel 1 der Verfassung sollte um folgenden Satz ergänzt werden: Die Republik „garantiert den Erhalt der Umwelt und der biologischen Vielfalt und kämpft gegen den Klimawandel.“ Die Nationalversammlung stimmte am 16. März 2021 mit einer überwältigenden Mehrheit von 391 Ja-Stimmen zu 47 Nein-Stimmen für diesen Vorstoß. Am 6. Juli 2021 stimmte jedoch der mehrheitlich von Konservativen, Bürgerlichen und Rechten kontrollierte Senat gegen die Initiative zur Verfassungsänderung. Ob und gegebenenfalls mit welcher neuen Formulierung Präsident, Regierung und Nationalversammlung einen neuen Anlauf im Senat nehmen wollen, ist noch offen.
schließenGedanken zur Wasserstoffbegeisterung weiter lesen
Gedanken zur Wasserstoffbegeisterung
Wenn eine Forschungsministerin in Talkshows verkündet, dass „Wasserstoff unser neues Öl“ sei oder Wasserstoff-Freunde postulieren, Solarkraftwerke in Afrika könnten unsere Energieprobleme lösen, regt sich Widerstand bei Dr.-Ing. Gerd Eisenbeiß, der Sie im Folgenden an seinen Erinnerungen aus über 40 Jahren Tätigkeit in Ministerien und Forschungsinstituten teilhaben lässt.
Von Dr.-Ing. Gerd Eisenbeiß
(23. August 2021) Für jemanden, der seit seinem Physik-Diplom mit Wasserstoff zu tun hat, ist das Thema „Wasserstoffbegeisterung“ nichts Neues. Das Hype-Thema kommt immer mal wieder auf – und verschwindet wieder, sobald die hinlänglich bekannten Effizienz- und Kostenprobleme erneut untersucht wurden. Dementsprechend hat es mich sehr erfreut, dass in der letzten Energiedepesche ein realistischer Blick auf die heutigen Wasserstoff-Übertreibungen veröffentlicht wurde (Anm. d. Redaktion: Artikel „Wasserstoff: Joker für die Energiewende?“), an den ich hiermit anknüpfen möchte.
Dr.-Ing. Gerd Eisenbeiß ist studierter Physiker, arbeitete zunächst als Wissenschaftler am Kernforschungszentrum Karlsruhe, wechselte 1973 als Referent ins Bundeskanzleramt und später als Referatsleiter in das Bundesforschungsministerium. Von 1990 bis 2001 war er Programmdirektor für Energie- und Verkehrsforschung beim Deutschen Forschungszentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) sowie anschließend Vorstand für Energie- und Materialforschung im Forschungszentrum Jülich. Seit seiner Pensionierung im Jahr 2006 widmet sich Gerd Eisenbeiß vornehmlich der Publizistik. www.politikessays.de
Bedingt durch meine früheren Tätigkeiten komme ich nämlich bei gleicher Faktenlage zu geringfügig anderen Schlüssen, an denen ich Sie gerne teilhaben lassen möchte. Meine Interpretation des Regierungshandelns ist beispielsweise grundsätzlich freundlicher. Ich sehe die politischen Entscheider einen Wettlauf um „Zukunftskompetenzen“ kämpfen – auch vor dem Hintergrund des schon lange begonnenen Bundestagswahlkampfes, den sich die Industrie clever zunutze macht. Insbesondere die „Retter“ des Verbrennungsmotors und des Stahlstandortes Deutschland, die sich zukünftig nicht nur das Eisenerz, sondern auch noch die Energie aus anderen Kontinenten herbeisubventionieren lassen wollen, rennen aktuell offene Türen bei den politischen Entscheidern ein. Gleiches gilt für Vertreter der Energiewirtschaft und insbesondere der Gasnetze. Aber dazu später mehr.
Unglaubliche Faszination
Der faszinierende Gedanke vom „sauberen Wasserstoff“ betört mit jedem Hype aufs Neue Wissenschaftler, Journalisten und Teile der Öffentlichkeit sowie manchen Politiker. Dazu ein schönes Beispiel aus den späten 1980er Jahren: Bei einer Pressekonferenz im Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT) zum Thema „Solarer Wasserstoff“ fragte mich ein WDR-Journalist, ob ich nicht auch der Meinung sei, dass nur eine finstere Verschwörung der Ölkonzerne bisher verhindert habe, dass man Wasserstoff nicht an jeder Ecke tanken könne. Ich antwortete darauf: „Ach wissen Sie, Wasserstoff ist ein Gas, das ist so leicht, dass wenn es einem zu Kopfe steigt, fängt man an zu schweben“. Ich war damals unter Forschungsminister Heinz Riesenhuber Referatsleiter für Energie-Effizienz sowie erneuerbare Energien und damit auch für Wasserstoff zuständig.
Zyklus der Erkenntnis
Im Zuge dieser Tätigkeit konnte ich viel darüber herausfinden, ob es prinzipielle Probleme auf dem Weg zu solarem Wasserstoff gibt und wo. So sind bereits vor rund 30 Jahren grob 100 Millionen DM Fördermittel sowie weitere 50 Millionen DM von Projektpartnern in die großen Systemprojekte „HYSOLAR“ und „Solarwasserstoff Bayern“ sowie in Grundlagen- und Sicherheitsforschung sowie in die Elektrolyseurentwicklungen geflossen. Die Ergebnisse dieser Forschungen haben sich nicht in Luft aufgelöst – man kann sie auch heute noch nachlesen. In jüngster Zeit tönt es dennoch erneut aus der Politik, „Wasserstoff sei das neue Öl“, er solle „Erdgas in der Breite“ ersetzen oder fast schon philosophisch „Wasserstoff sei das Schlüsselelement für Energiewende und Nachhaltigkeit“. Wenigstens wird heutzutage nicht mehr von einer „Wasserstoff-Gesellschaft“ schwadroniert wie einst von deutschen Forschungsmanagern und Jeremy Rifkin.
Unterschätzter Strom
Erfreulicherweise liest man immer häufiger nüchterne Einordnungen, die Wasserstoff nicht als Allheilmittel, sondern in lediglich bestimmten Fällen als einen sinnvollen Teil einer treibhausgasfreien Stromwirtschaft einordnen. Die gemeinhin stattfindende Unterschätzung des Stroms und die Überschätzung des Wasserstoffs könnten damit zusammenhängen, dass Strom traditionell als Sekundärenergieträger und Gas als Primärenergieträger gilt. In der Welt der Nachhaltigkeit ist es aber umgekehrt: Strom aus Sonne und Wind ist primär und das Gas aus Wasserstoff sekundär, weil Strom nicht unter erheblichen Verlusten aus Gas, sondern Gas unter Verlusten aus Strom produziert wird! Thermodynamisch ist Strom grundsätzlich die höherwertige Energieform, weil Strom reine Arbeitsfähigkeit (Exergie) darstellt, ein Gas dagegen „nur“ die Summe seiner chemischen Bindungsenergie ist. Die Nachhaltigkeit unserer Energieversorgung entscheidet sich bei der CO2-freien und nicht-nuklearen Stromversorgung. Das ist keine Absage an Solar- oder Erdwärme, die auch in unseren Breitengraden hier und da durchaus zur Wärmeversorgung beitragen können, und schon gar nicht an die notwendige Effizienzsteigerung bei jeglichem Energieverbrauch. Es ist zudem vollkommen klar, dass Industrie, Verkehr, Kleinverbrauch und sogar die Restwärmeversorgung energieeffizienter Gebäude auf elektrischem Strom beruhen werden. Und dieser Strom wird aus Sonne und Wind sowie ein wenig Wasserkraft und Biomasse hergestellt werden. Mit der Kernfusion oder anderen unerschöpflichen Energiequellen müssen wir auf absehbare Zeit nicht rechnen.
Speicherung als Schlüssel
Alle wissen längst, dass eine Stromversorgung aus Sonne und Wind ein Speicherproblem hat, das zumindest für den saisonalen Ausgleich Wasserstoff aus Elektrolyse erfordert. Dafür dürfte der Wasserstoff am besten am Ort seiner Erzeugung bleiben, um mittels Brennstoffzellen oder Gasturbinen in Elektrizität rückverwandelt zu werden. Viel mehr erscheint ein Stromnetz optimal, das eine jederzeit sichere Versorgung sicherstellen kann, weil es Elektrolyseure, Wasserstoff-Speicherund Rückverstromer an jeweils einem Ort unterhält. Ein Wasserstofftransport ist sodann nicht nötig. Auch kann der bei der Elektrolyse entstehende Sauerstoff verwertet werden, beispielsweise effizienzverbessernd bei der Rückverstromung. Die anfallende Wärme kann wiederum zur Versorgung geeigneter naher Verbraucher genutzt werden.
Gebäude im Fokus
Eine solche Infrastruktur hat noch weitere Vorteile: Interessant ist beispielsweise die Perspektive, dass eine saisonal gesicherte Stromversorgung die kurzfristigeren Stabilisierungsaufgaben des Stromnetzes mit erledigt. Teure Kleinlösungen wie hausinterne Batterien oder die bidirektionale Netzverbindung von Fahrzeugbatterien werden nicht benötigt. Natürlich wird das die Dezentralisierungs-Ideologen betrüben, aber diese müssen sich ja ohnehin mit Gigawatt-Windparks, Interkontinentalkabeln und Wasserstoffpipelines abfinden. Aus dem bestehenden Stromnetz lassen sich gestützt durch Wasserstoffzentren auch die Wärmepumpen versorgen, die unsere Gebäude heizen und warmes Wasser bereitstellen. Als Wärmespeicher stehen Warmwassertanks zur Verfügung, die elektrische nachgeheizt werden können. Wärme-Kraft-Kopplung verliert ihren Sinn, da Strom auch Wärme kann. Es wird eine reine Kostenfrage sein, ob dabei auch Erdwärme oder Solarkollektoren eingesetzt werden – Erdwärme ist allerdings nicht so sauber und erneuerbar wie Sonne und Wind.
Verkehrssektor
Auch der Verkehr wird durchgängig elektrisch. Schienenfahrzeuge werden bereits überwiegend unmittelbar mit Strom betrieben. Noch nicht mit Oberleitungen ausgerüstete Strecken müssen nachgerüstet werden. Lediglich die PKW dürfen auf praktikable Batterielösungen hoffen. LKW und andere schwere Nutzfahrzeuge könnten mit Brennstoffzellen betrieben werden, die Wasserstofftankstellen benötigen. Die Erzeugung des benötigten Wasserstoffs kann dabei vor Ort geschehen. Denn Wasserstoff kann einfach an den Tankstellen erzeugt werden, wo er auf das erforderliche Druckniveau von bis zu 800 bar verdichtet werden muss. Die Betreiber solcher Anlagen sind sodann Stromkunden wie andere Betriebe auch. Die erforderliche Tankinfrastruktur kann zudem klein gehalten werden. Es ist letztlich eine Frage der Systemkosten, ob zentrale Großelektrolyseurstationen Druckflaschen mit Wasserstoff befüllen, die dann mit Lastwagen zu den Tankstationen gebracht werden – oder ob Wasserstoff einfach vor Ort erzeugt wird. Ob jedoch das künftig nicht mehr benötigte Erdgasnetz die Tankstellenversorgung übernehmen könnte, scheint mir fraglich – nicht wegen der Umrüstung auf Wasserstoff an sich, sondern wegen des Druckniveaus und der Überdimensionierung des bestehenden Netzes in einer nachhaltigen Zukunft. Jedenfalls erscheint die Vorstellung abwegig, wir müssten das Erdgasnetz mit Wasserstoff füllen. Wer soll der Abnehmer dafür sein? Der Wärmemarkt wird schließlich direkt mit dem Primärenergieträger (!) Strom bedient.
Batterien statt Brennstoffzellen
Schon vor mehr als 30 Jahren gab es Untersuchungen zu wasserstoffspeichernden organischen Flüssigkeiten, die heute LOHC genannt werden und wegen ihrer Stabilität bei Umgebungsdruck attraktiv erscheinen. Ob beim heutigen Stand der benötigten Materialien und Technologien brauchbare Lösungen gefunden werden, ist eine offene Forschungsfrage. Die gesamte Zeit über, die ich im Bundesministerium für Forschung und Technologie, als Programmdirektor beim DLR oder als Vorstand im Forschungszentrum Jülich mit Brennstoffzellen zu tun hatte, verschob sich die Vorteilsgrenze in Verkehrssystemen langsam, aber merklich zu Gunsten der Batterie. Heute sind neben PKW bereits leichte Nutzfahrzeuge batterieelektrisch betreibbar, während es vor 20 Jahren noch als gesichert galt, dass sämtliche Autos irgendwann mit Brennstoffzellenantrieb fahren würden.
Beständige Luftschlösser
Unter dem Begriff „Sektorkopplung“ werden auch heute noch Ideen allzu kritiklos diskutiert, die bei einer genauen Betrachtung schon längst durchgefallen sind. So ist beispielsweise keine Notwendigkeit zu erkennen, warum Stromspeicheranlagen zur Netzstabilisierung zugleich den Wasserstoff für Tankvorgänge von Fahrzeugen herstellen sollen. Beide Anwendungen sind in der Betriebsweise und auch wirtschaftlich verschieden einzuordnen. Die Erzeugung von Stromspeicherwasserstoff ist ein innerbetrieblicher Vorgang beim Netzbetreiber, während H2-Kraftstoff ein handelbares und der Besteuerung durch den Fiskus unterfallendes Marktprodukt ist. Auch die ebenfalls weit verbreitete Erwartung, PKW-Batterien müssten rückspeisend das Netz stabilisieren, dürfte auf enge Akzeptanzgrenzen beim Normalbürger stoßen. Die Kosten dies zu realisieren wären hoch, denn aktuelle Fahrzeuge, Wallboxen und Ladestationen können dies nicht – und wer möchte schon zu seinem Auto gehen, nur um festzustellen, dass der Akku für ein paar Cent vom Netzbetreiber geleert wurde? Wenn die Netzbetreiber durch wasserstoffbasierte Speicher- und Stabilisierungszentren Versorgungssicherheit bieten können, erübrigen sich diese Diskussionen.
Transport- und Anwendungsfragen
Die Industrie benötigt an einigen Stellen, beispielsweise in der Stahlerzeugung, so große Energiemengen, dass ihre Versorgung aus mitteleuropäischen Solar- und Windanlagen illusorisch erscheint. Ein Grund dafür liegt in der Akzeptanzkrise der Windenergie. Darüber hinaus wird Wasserstoff auch als Reduktionsmittel oder Reaktionspartner durch die Industrie in Anwendungsfällen benötigt, die mit Strom technisch nicht zu decken sind. Die Lösung für diese lange bekannten Herausforderungen soll nun der Import großer Energiemengen aus fernen Regionen sein. Schon vor 50 Jahren gab es solche Überlegungen, die zuletzt vor 15 Jahren mal wieder aufgegriffen wurden. Im Rahmen der französischen Initiative für eine Mittelmeer-Union sollte der Import von Solar- und Windstrom aus Nordafrika organisiert werden, für deren Erzeugung die „DESERTEC“-Initiative sorgen sollte (aber nicht konnte); die technologische Transport-Lösung hieß eindeutig „HGÜ“, also der Transport durch Hochspannungs-Gleichstromkabel durchs Mittelmeer. Heute scheint man den Wasserstofftransport für besser zu halten. Sicher haben Wasserstoffpipelines geringere Transportverluste als eine HGÜ, andererseits muss der Wasserstofftransport die Umwandlungsverluste bei der Elektrolyse überkompensieren, was leicht übersehen wird. Importstrom könnte hingegen einfach wie offshore-Windstrom in das europäische Stromnetz eingespeist werden – Wasserstoff müsste unter weiteren Verlusten rückverwandelt werden, sofern er nicht als Reduktionsmittel (Stahlindustrie) oder Reaktionspartner (Chemie) unmittelbar eingesetzt wird. Es ist wiederum eine Kostenfrage, ob dieser industrielle Bedarf nicht besser durch Elektrolyseure vor Ort erzeugt werden sollte. Man muss wohl auch leise fragen, ob ein klimaneutrales Europa noch ein geeigneter Standort für Stahlproduktion ist, wenn sowohl das Erz wie auch das Reduktionsmittel interkontinental herbeigeschafft werden müssen.
Solarthermische Kraftwerke in Afrika werden seitens der europäischen Politik gerne als Lösung unserer Energieprobleme aus dem Hut gezaubert – oder genauer genommen als Lösung für die hiesigen Akzeptanzprobleme erneuerbarer Anlagen wie Windparks. Bisher sind sämtliche Anläufe gescheitert, derartige Lösungen außerhalb von Forschungsprojekten kommerziell erfolgreich zu realisieren. Warum dies mit Wasserstoff anders werden soll, darauf hat niemand eine Antwort.
Strom ist die Zukunft
Wie man es also dreht und wendet, es bleibt hochgradig prioritär, möglichst viel erneuerbaren Strom in Europa zu erzeugen. Aus volkswirtschaftlichen Gründen sollte der Staat auch verhindern, dass sich Batteriesysteme zur Erhöhung des Eigenverbrauchs verbreiten – und diese Fehlentwicklung schon gar nicht fördern. Das Ziel muss stets eine Netzstabilisierung und nicht eine gefühlte Autarkie sein, die in der Realität ohnehin nicht besteht. Diese dezentralen Investitionen in Kleinstspeicher und Optimierungen auf Hausebene verursachen zudem mit Sicherheit wesentlich höhere Kosten als die Integration dezentraler Stromerzeuger in das allgemeine Netz, das durch zentrale Speicherzentren effizienter und kostengünstiger stabilisiert werden kann. Es ist auch auf Dauer nicht hinzunehmen, dass Batteriebetreiber die Sicherheit einer Netzanbindung in Anspruch nehmen, ohne angemessen dafür zu bezahlen; da lassen sich die Villenbesitzer von den kleinen Mietern ohne Möglichkeit zur Eigenstromoptimierung doppelt subventionieren!
Förderung verzerrt den Markt
Auch eine weitere, mit Wasserstoff eng verbundene Strategie ist sehr kritisch zu betrachten: die sogenannten „Designer-Kraftstoffe“, auch bekannt als „Power-to-Liquid“, die unter hohen Verlusten aus erneuerbarem Strom gewonnen werden sollen. Es erscheint unter Berücksichtigung von Wandlungsverlusten und Kosten illusorisch, auf diesem Weg dem überkommenen Verbrennungsmotor künstlich eine wirtschaftliche Zukunft zu sichern. Hier ist entscheidend, dass der Staat sich nicht zu Subventionen verführen lässt, die unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten bessere Alternativen unfair verdrängen. Einzig beim Luftverkehr ist „grünes Kerosin“ möglicherweise besser als grüner Wasserstoff, wenn eine direkt-elektrische Antriebslösung ausscheidet. Bei all diesen Technologien besteht die Gefahr, dass der Staat durch „fördernde“ Maßnahmen den Wettbewerb zwischen verschiedenen, gleichermaßen CO2-freien Wegen verzerrt und die Energiewende so unnötig teuer macht. Diesen in der Vergangenheit mehrfach unterlaufenen Fehler dürfen wir nicht wiederholen. Gerade die Faszination des Wasserstoffs, dem seit Jules Verne so viele zu erliegen drohen, könnte die Politik zu weiteren Fehlimpulsen verleiten.
Preisfrage
Deutschland – und wohl auch die EU insgesamt – sind bei der Dekarbonisierung der Stromproduktion wesentlich weiter als bei der Verminderung des Energieverbrauchs; die unausgewogene Vernachlässigung der Energieeinsparung gegenüber den erneuerbaren Energien ist eine der erwähnten Fehlsteuerungen. Deshalb ist ein hoher Strompreis – für Verbraucher und gewerbliche Verbraucher gleichermaßen – und die damit verbundene Lenkungswirkung natürlich hilfreich. Gleichwohl wirft ein hoher Strompreis natürlich soziale Probleme bei niedrigen Einkommen auf. Diese Probleme lassen sich durch die Erhöhung sozialer Einkommensbestandteile lösen. Keinesfalls darf jedoch der Strompreis selbst für sozial schwache Haushalte abgesenkt werden, da sonst an dieser Stelle die Lenkungswirkung verloren ginge, so wie es jetzt bei den bisher privilegierten Großverbrauchern der Fall ist.
Klimaneutralität
Einem für erneuerbare Energien und nachhaltige Entwicklung engagierten Menschen sei schließlich noch ein zweifelnder Gedanke erlaubt: wir wissen aus einer Unzahl von Tatbeständen, dass Reinheit umso teurer wird, je höher der erreichte Reinheitsgrad ist; die letzten Prozente an Klimaneutralität werden uns 2045 extrem teuer zu stehen kommen, während gleichzeitig anderswo auf unserem Planeten vermutlich Kohle, Öl und Erdgas weiter billig gefördert und verbrannt werden. Gleichzeitig wird es an vielen Orten der Welt trotz guten Willens an dem nötigen Kapital fehlen, auch nur kleinste Schritte zur Treibhausgasreduzierung zu unternehmen. So wie der Coronaviren-Schutz erst dann perfekt ist, wenn er global realisiert wird, so ist es erst recht beim Klimaschutz der Fall. Es ist nicht moralisch, sondern unmoralischer Egoismus, enorme Ressourcen für die letzten Prozente an Klimaneutralität im eigenen Land aufzuwenden, solange anderswo billiger für Reduktion gesorgt werden kann. Bevor hierzulande extrem teure Anlagen zur CO2-Entfernung aus der Atmosphäre oder für synthetische Kraftstoffe subventioniert werden, ist weltweit nachhaltige Entwicklungshilfe zu leisten. Oder um es konkret zu benennen: Wollen wir wirklich in Ländern, die noch tief im fossilen Zeitalter stecken, Solarkraftwerke bauen, die nicht dort die Energieprobleme lösen, sondern ausschließlich uns dienen?
Zur Geschichte der deutschen Wind-, Solar- und Kernkraftwerke | Gerd Eisenbeiß | 14. November 2016 | 85 Seiten | ISBN: 978-3741291982 | 4,99 Euro
Berlin kauft sein Stromnetz weiter lesen
Rekommunalisierung: Berlin kauft sein Stromnetz
Von Louis-F. Stahl
(19. August 2021) In der Bundeshauptstadt versucht man seit gut 15 Jahren die Uhren zurückzudrehen. In den 1990er Jahren versilberte der Berliner Senat alles, was sich zu Geld machen ließ: Stromnetz, Wasserbetriebe, Gasnetz und Wohnungsbaugesellschaften. Nach der Jahrtausendwende wurde den Berlinern dann schnell klar, was Privatisierung in der Praxis bedeutet: Steigende Kosten für die Bürger und sprudelnde Gewinne bei den Konzernen. Die Bürger demonstrierten, gründeten Bürgerinitiativen und starteten Volksbegehren sowie später auch Volksentscheide. Der Erfolg hielt sich bis vor Kurzem in Grenzen: Lediglich die Wasserversorgung wurde im Dezember 2013 erfolgreich rekommunalisiert – daher vom Staat zurückgekauft.
Für die Strom- und Gasnetze sieht der aktuelle Koalitionsvertrag von SPD, Linken und Grünen ebenfalls eine Rekommunalisierung vor. Bisher hat sich der Berliner Senat dabei jedoch sehr ungeschickt angestellt. Zuletzt verlor Berlin am 9. März 2021 letztinstanzlich einen Prozess vor dem Bundesgerichtshof gegen den Gasnetzbetreiber Gasag im Streit um Konzessionsvergaben (Az. KZR 55/19). Die bereits 2012 vom Land Berlin gegründete „Berlin Energie“ sei noch immer wirtschaftlich überhaupt nicht in der Lage, sich an einem solchen Konzessionsvergabeverfahren zu beteiligen, urteilte das höchste deutsche Gericht. Somit bleibt das Berliner Gasnetz bis auf Weiteres in der Hand der Gasag – zumindest, sofern die Gasag-Eigentümer E.on Ruhrgas, Engie und Vattenfall nicht überraschend das komplette Unternehmen an das Land Berlin verkaufen. Dieser Schachzug wäre nicht unwahrscheinlich, da die bestehende Konzession im Jahr 2023 ausläuft. Sofern das Land die „Energie Berlin“ bis dahin in Stellung bringt, könnte die Gasag ihr Netz verlieren und würde damit über Nacht ihr Geschäftsmodell verlieren. Wie der Berliner Tagesspiegel am 5. April 2021 berichtete, sollen die Gasag-Eigentümer genau aus diesem Grund zum 1. April 2021 den Geschäftsführer des Unternehmens ausgewechselt haben – statt zu prozessieren, soll nun ein frisches, unbelastetes Gesicht die Verkaufsverhandlungen aufnehmen.
Genau diesen Weg hatte Vattenfall bereits als Eigentümerin der Stromnetz Berlin GmbH im Oktober 2020 überraschend angestoßen und damit schließlich am 16. Juni 2021 Erfolg. An diesem Tag hat das Berliner Abgeordnetenhaus der Offerte des schwedischen Konzerns zugestimmt, das Berliner Stromnetz und dazu das Unternehmen Stromnetz Berlin GmbH für rund 2 Milliarden Euro zurückzukaufen. Dem Deal ging ebenfalls ein Gerichtsprozess um die Konzessionsvergabe voraus. Nachdem Vattenfall vor dem Kammergericht Berlin in einem Eilverfahren am 24. September 2020 obsiegte, konnten beide Seiten mit dem jetzt geschlossenen Deal ein jahrelanges Streitverfahren vermeiden. Es bleibt abzuwarten, ob dies beim Gasnetz ebenfalls gelingt.
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Kohleausstieg: Zu viel Kohle vom Staat?
Von Louis-F. Stahl
(17. August 2021) Wie bereits beim Atomausstieg gibt es auch beim Kohleausstieg finanzielle Gewinner: Die Kraftwerksbetreiber sollen mit rund 4,35 Milliarden Euro entschädigt werden. Während die Kohlekraftwerksbetreiber den Geldregen als nicht kräftig genug empfanden und erfolglos in Karlsruhe klagten, zeigen neuste Veröffentlichungen des Recherchenetzwerkes „Correctiv“, dass die Höhe der Entschädigungen in Wirklichkeit viel zu hoch angesetzt wurde. Wie die Höhe der Entschädigungen zustande gekommen ist, dazu schwieg sich das von Peter Altmaier (CDU) geführte Wirtschaftsministerium trotz Nachfragen verschiedener Medien über Monate hinweg hartnäckig aus. Interne Dokumente des Ministeriums, die Correctiv zugespielt wurden, enthalten jedoch eine Formel, mit der als Gesamtergebnis – rein zufällig, wie das Ministerium betont – rund 4,4 Milliarden Euro Entschädigungssumme zustande kommen. Interessant dabei: Als Berechnungsgrundlage für die entgehenden Gewinne der Kraftwerksbetreiber enthält die Formel einen CO2-Preis in Höhe von 17 Euro je Tonne. Das im Jahr 2020 beschlossene Brennstoffemissionshandelsgesetz sieht jedoch ab dem Jahr 2025 einen CO2-Preis in Höhe von 55 Euro pro Tonne vor. Bei den laufenden Kosten der Kraftwerke sollen ebenfalls zu niedrige Werte angesetzt worden sein. Dies führt im Ergebnis zu unrealistisch hohen Gewinnen, die den Kraftwerksbetreibern vermeintlich entgehen und an denen sich die Entschädigungszahlungen bemessen.
Besonders pikant: Das interne Papier des Wirtschaftsministeriums weist auf die Gefahr hin, dass ein Bekanntwerden der wackeligen Berechnungsgrundlagen die „Beziehungen mit der Europäischen Union ungünstig beeinflussen“ könne. Die EU-Kommission prüft derzeit, ob es sich bei den Entschädigungen um eine „unerlaubte Beihilfe“ handelt.
Zufällig ausgeloste Bürger wurden eingeladen, Empfehlungen für die Klimapolitik Deutschlands zu erarbeiten. Die Ergebnisse des Bürgerrates Klima liegen nunmehr vor. weiter lesen
Ergebnisse des „Bürgerrates Klima“
Zufällig ausgeloste Bürger wurden eingeladen, Empfehlungen für die Klimapolitik Deutschlands zu erarbeiten. Die Ergebnisse des Bürgerrates Klima liegen nunmehr vor. Sie fordern unter anderem, dem Klimaschutz und insbesondere dem Erreichen des 1,5-Grad-Ziels des Pariser Klimaschutzabkommens höchste Priorität einzuräumen.
Von Aribert Peters
(9. August 2021) Innerhalb von wenigen Jahren, darüber herrscht weitestgehend Einigkeit, muss die Energieversorgung vollständig auf erneuerbare Energien umgestellt werden. Es gibt mehr als genug Potenzial für Wind- und Sonnenenergie sowie auch die benötigten Flächen für eine erneuerbare Energieversorgung von ganz Deutschland. Die Kosten dafür sind sogar geringer als bei einer weiteren Nutzung der fossilen Energien. Wie dieser Umstieg geschafft werden soll, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. In der Wahlkabine am 26. September 2021 haben die Bürger nicht viel Zeit zum Nachdenken und Diskutieren. Und auf dem Wahlzettel stehen keine konkreten Sachfragen zur Auswahl.
Bürgerrat Klima
Wie die Bürger entscheiden würden, wenn sie sich Zeit zum Diskutieren und Nachdenken nehmen, das hat ein „Bürgerrat Klima“ gerade herausgefunden. 160 Bürger zufällig ausgewählte Bürger wurden in den Bürgerrat berufen. Nach Alter, Geschlecht, Migrationshintergrund und Bildungsstand entsprechen diese Bürger dem Bundesdurchschnitt. Sie diskutierten in 12 Videokonferenzsitzungen, wie Deutschland sozial, wirtschaftlich und ökologisch faire Klimaziele umsetzen kann. Aufzeichnungen dieser Sitzungen sind als Video verfügbar. Die Bürger wurden von ausgewiesenen Experten beraten. Der Bürgerrat Klima wurde im Herbst 2020 vom Verein „BürgerBegehren Klimaschutz“ und den „Scientists for Future“ initiiert. Seine Empfehlungen wurden an die deutsche Regierung übergeben.
Verjüngungskur der Demokratie
Bürgerräte wollen die Demokratie nicht ersetzen, sondern verbessern. Als „Verjüngungskur der Demokratie“ bezeichnete sie die Süddeutsche Zeitung. Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie spricht von der „vierten Gewalt“, der „Konsultative“, die neben der Legislative, der Exekutive und der Judikative Platz finden müsse. Bürgerräte haben in anderen Ländern bereits wichtige gesellschaftliche Veränderungen angestoßen. Eine Studie des Umweltbundesamts beschreibt zahlreiche dafür mögliche Partizipationsmodelle und erörtert viele damit zusammenhängende Fragen.
Unmögliches möglich gemacht
Bürgerbeteiligung im Klimaschutz gab es schon einmal: Bereits am Klimaschutzplan 2050 der Bundesregierung sollten im Jahr 2015 Bürger und Verbände mitwirken, hatten am Ende jedoch keinen wesentlichen Einfluss auf den Klimaschutzplan. Im Endbericht der Prognos AG wird es „grundsätzlich kaum für möglich gehalten, ein repräsentatives ‚Abbild‘ der Gesellschaft [...] herzustellen“. Genau diese damals unterstellte Unmöglichkeit ist den Organisatoren des Bürgerrates Klima gelungen. Zufällig ausgewählte Bürger aus vollkommen unterschiedlichen sozialen Milieus haben sich nach eingehender Diskussion auf Maßnahmen zur Bewältigung des Klimawandels einigen können. Kaum einer von ihnen hatte sich vorher eingehender mit dem Klimawandel beschäftigt. Und doch waren alle bereit, sich über etliche Tage in dieses Thema zu vertiefen und kamen zu den gleichen Schlussfolgerungen und Forderungen an die Politik.
Politik versagt beim Klimaschutz
Gerade bei Energiewende und Klimaschutz agiert die Regierung seit Langem verdächtig einseitig zugunsten der Wirtschaft: Steuerbefreiungen, Fusionsgenehmigungen, Subventionen, mangelhafte Aufsicht durch Wettbewerbs- und Aufsichtsbehörden sind inzwischen an der Tagesordnung. Was der Bundestag bisher zum Klimaschutz beschlossen hat, wurde vom Bundesverfassungsgericht als für kommende Generationen unzureichend und daher verfassungswidrig zurückgewiesen. Die Regierungskoalition bremst seit vielen Jahren den Ausbau der erneuerbaren Energien und die Verkehrswende. Regierung, Abgeordnete und Verwaltungen stehen unter dem Einfluss von Energiekonzernen: Von einfachen Beamten, die nur noch von den Konzernen vorgelegte Gutachten abnicken, über Ministerien, die Gesetzentwürfe der Wirtschaft blind übernehmen bis hin zu Abgeordneten, die ihr Hauptgehalt durch Beratungsverträge und Aufsichtsratsposten bestreiten. Gerade deshalb muss die Bürgermeinung Eingang in die politischen Entscheidungen unseres Landes finden.
- Lobbypedia: Gerhard Schröder
- energieverbraucher.de: Lobbyismus
- Die Grünen/EFA im EU-Parlament: Revolving Doors And The Fossil Fuel Industry
Bürgerräte als Lösung
Insbesondere bei der Energiewende und dem Kampf gegen den Klimawandel ist eine von der Industrie und finanzieller Einflussnahme unabhängige Politik wichtig – wie sie in Bürgerräten erarbeitet und abgestimmt wird. Im Kern geht es um die Machtfrage, die von Ihnen liebe LeserInnen zu entscheiden ist: Nicht nur in der Wahlkabine im September 2021, sondern auch beim bürgerschaftlichen Engagement darüber hinaus.
Bundestagswahl ist Klimawahl
Der Bund der Energieverbraucher versteht sich als überparteiliche Verbraucherschutzorganisation. Aus diesem Grund gibt der Verein zur Bundestagswahl keine konkreten Wahlempfehlungen ab, sondern regt dazu an, die persönliche Wahlentscheidung nicht leichtfertig – „wie immer“ – zu treffen, sondern genau zu überdenken, wem man seine Stimme gibt. Zur Information möchten wir Ihnen folgende Angebote besonders empfehlen:
Auszug aus den Empfehlungen des Bürgerrates Klima
In thematisch fokussierten Untergruppen des Bürgerrates wurden Empfehlungen erarbeitet und abschließend vom Plenum abgestimmt. Zu den Beschlüssen zählen zehn Leitsätze, die eine überwältigende Zustimmung von im Mittel 94 Prozent gefunden haben. Bei den 84 detaillierten Empfehlungen betrug die zustimmende Mehrheit durchschnittlich 90 Prozent. Im Ergebnis kann man feststellen, dass sich die Bürger in den Sachfragen einig sind. Aus Platzgründen können wir nachfolgend nur die wichtigsten Entscheidungen auszugsweise wiedergeben. Sie können den vollständigen Abschlussbericht mit allen Empfehlungen auf 106 Seiten als PDF abrufen.
Übergeordnete Leitsätze
Die CO2-Steuer soll als Pro-Kopf-Pauschale an alle Bürger rückerstattet werden. Zur Anpassung der Höhe dieser Steuer gab es keinen Beschluss. Klimadividende und Steuererleichterungen sollen je nach Einkommen für soziale Gerechtigkeit bei der Klimawende sorgen. „Mir ist wichtig, dass die soziale Gerechtigkeit nicht unter der Klimapolitik leidet“, sagte ein Teilnehmer dazu.
- Das 1,5-Grad-Ziel ist nicht verhandelbar und hat oberste Priorität!
- Der Klimaschutz dient dem Allgemeinwohl und hat Priorität vor Einzelinteressen: Große Unternehmen müssen verpflichtet werden, im Sinne von Klimaschutz und Gemeinwohl zu handeln. Klimafreundlichkeit muss attraktiv und erstrebenswert sein. Klimaschädigendes Verhalten ist zu besteuern und zu sanktionieren.
- Es soll ein verbindlicher CO2-Preis für die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft eingeführt werden, dessen Einnahmen vorrangig in den Ausbau klimaneutraler Infrastruktur investiert werden sowie eine Pro-Kopf-Pauschale zum sozialen Ausgleich der Mehrausgaben.
- Das Wahlalter soll auf 16 Jahre herabgesetzt werden, damit die Politik stärker unter Druck gesetzt wird, im Sinne nachfolgender Generationen zu handeln.
- Klimaneutrale Firmen sollen vom Staat einen Wettbewerbsvorteil eingeräumt erhalten.
- Erneuerbare Energieträger sollen immer günstiger als fossile Energieträger sein. Dies soll durch Förderung und/oder Besteuerung sichergestellt werden.
Energieversorgung
- Bis 2035 soll der Strom in Deutschland vollständig aus erneuerbaren Energiequellen stammen, der Kohleausstieg soll auf das Jahr 2030 vorverlegt werden.
- Bis 2035 soll die Energieversorgung aller Sektoren in Summe zu 70 Prozent aus Erneuerbaren erfolgen, bis 2040 zu 90 Prozent.
- Alle Kommunen sollen bis 2023 einen Plan für die Klimaneutralität bis 2030 entwickeln.
- Jedes Bundesland soll mindestens zwei Prozent seiner Fläche für PV- und Windkraftanlagen bereitstellen.
- Ab 2022 soll die Nutzung von Dachflächen für PV-Anlagen schrittweise verpflichtend eingeführt werden.
- Landwirtschaftliche Flächen und Wasserflächen sollen für die Stromgewinnung genutzt werden. Bereits versiegelte Flächen sollen für PV-Anlagen genutzt werden.
- Der Ersatz von alten durch neue Windkraftanlagen darf nicht weiter bürokratisch und ordnungsrechtlich behindert werden.
- Der Eigenverbrauch von PV-Strom soll vereinfacht und gefördert werden.
- Die Befreiung energieintensiver Industrien von der EEG-Umlage soll rückgängig gemacht werden.
Mobilität
- Der öffentliche Verkehr, Radverkehr und Fußverkehr muss Priorität vor dem motorisierten Verkehr haben und im Fernverkehr der Bahnverkehr Vorrang vor dem Flugverkehr.
- Ein allgemeines Tempolimit fordert die Mehrheit der Teilnehmer: 120 km/h auf Bundesautobahnen, 80 km/h auf Landstraßen und 30 km/h in Innenstädten.
- Zur Stärkung des Radverkehrs muss in den nächsten 5 bis 10 Jahren die Infrastruktur für Fahrräder massiv ausgebaut werden.
- Die Erstzulassung von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor soll bis 2027, spätestens 2030 eingestellt werden.
Wärmeversorgung von Gebäuden
- Eine verpflichtende kostenlose Sanierungsberatung für alle Gebäude mit Einschätzung durch eine Sanierungsampel soll eingeführt werden.
- Unschädliche und ökologische Baustoffe sollen gefördert werden.
- Die Finanzierung energetischer Gebäudesanierung von Wohngebäuden ist ab 2023 auf vier Säulen zu stellen: Der Mieteranteil soll 10 Prozent, der Eigentümeranteil 20 Prozent, der kommunale Anteil 20 Prozent und Bundesbeitrag 50 Prozent betragen.
- Der Gesetzgeber soll ein Einbauverbot von fossilen Öl- und Gasheizungen ab 2026 erlassen.
Ernährung und Landwirtschaft
- Die Subventionspolitik der Landwirtschaft soll sich künftig an Kriterien der Klimafreundlichkeit orientieren.
- Die Verschwendung und Vernichtung von Lebensmitteln ist zu reduzieren.
- Die Emissionen durch Tierhaltung sollen bis 2030 um 50 Prozent verringert werden.
- Werbung für klimaschädliche sowie ungesunde Produkte und insbesondere, wenn sie an Kinder gerichtet ist, sollte verboten werden.
Aus erneuerbaren Energien sauber gewonnener Wasserstoff soll uns unabhängig machen von schmutzigem fossilem Öl, Gas und Kohle. Die neue Wasserstoffwirtschaft soll unzählige Arbeitsplätze schaffen, das vorhandene Erdgasnetz nutzen und nebenbei auch noch Energiespeicherprobleme lösen. Klingt das nicht zu schön, um wahr zu sein? Eine kritische Bestandsaufnahme. weiter lesen
Wasserstoff: Joker für die Energiewende?
Aus erneuerbaren Energien sauber gewonnener Wasserstoff soll uns unabhängig machen von schmutzigem fossilem Öl, Gas und Kohle. Die neue Wasserstoffwirtschaft soll unzählige Arbeitsplätze schaffen, das vorhandene Erdgasnetz nutzen und nebenbei auch noch Energiespeicherprobleme lösen. Klingt das nicht zu schön, um wahr zu sein? Eine kritische Bestandsaufnahme.
Von Louis-F. Stahl
(8. Juni 2021) Der Traum vom „grünen Wasserstoff“ basiert auf der Hypothese, im Überfluss vorhandenen Grünstrom mittels Elektrolyse CO2-frei und sauber in Wasserstoff (H2) verwandeln zu können. Noch sieht die Realität der Wasserstoffwelt aber ganz anders aus: Wasserstoff wird, mit Ausnahme einiger weniger Vorzeigeprojekte, nicht aus (nicht) im Überfluss vorhandenem erneuerbaren Strom hergestellt, sondern aus fossilem Erdgas „dampfreformiert“.
Vattenfall’s Wasserstoff-Aushängeschild: Das GuD-Kraftwerk Nuon Magnum in den Niederlanden kann mit verschiedenen Brennstoffen betrieben werden, darunter Erdgas und Flüssiggas. Der 2009 veröffentlichte Plan eine „umweltfreundliche“ Kohlevergasung zu realisieren, wurde inzwischen verworfen. Stattdessen soll ab 2023 mittels Dampfreformation aus norwegischem Erdgas gewonnener Wasserstoff zum Einsatz kommen.
Selbst Vertreter der Wasserstoffwirtschaft sprechen zurückhaltend davon, dass derzeit rund 70 Prozent des Wasserstoffs aus Erdgas gewonnen werden. Anderen Quellen zufolge dürften derzeit bis zu 90 Prozent des Wasserstoffs aus fossilen Quellen stammen. Zur Herstellung dieses „grauen Wasserstoffs“ wird Erdgas unter Hitze mittels Dampfreformation in Wasserstoff und CO2 umgewandelt. Bei der Herstellung einer Tonne Wasserstoff werden bei diesem Verfahren zehn Tonnen des Treibhausgases CO2 in die Atmosphäre entlassen.
Farbenfrohes Hütchenspiel
Theoretisch ließe sich das bei fossil hergestelltem Wasserstoff anfallende CO2 auffangen und speichern. Der in der Branche etablierten Wasserstoff-Farbenlehre zu Folge, dürfte sich der graue Wasserstoff dann „blauer Wasserstoff“ nennen. Dies ist jedoch exorbitant teuer und würde ein neues Endlagerproblem mit Verlagerung unserer heutigen Probleme auf zukünftige Generationen aufwerfen. Wird mittels Methanpyrolyse Wasserstoff gewonnen, und das CO2 leicht lagerbar als fester Kohlenstoff abgeschieden, soll er statt blau sogar „türkis“ genannt werden. Die Wasserstoff-Farbpalette kennt darüber hinaus keine Grenzen: Die Solar- wie auch die Atomenergiebranche beanspruchen beispielsweise gemäß ihrer CO2-freien Energie-Zulieferung den Begriff des „gelben Wasserstoffs“ für sich. Denkt man die Idee der Farbenlehre mit offenem Geist weiter, so könnte aus dem herkömmlichen Strommix auch „bunter Wasserstoff“ entstehen. Wobei eine Vermischung von Farben, insbesondere wenn Kohlestrom enthalten ist, ehrlicherweise immer in einem „braunen Wasserstoff“ enden müsste...
Dass Wasserstoff aus Windstromelektrolyse technisch längst funktioniert, beweist seit zehn Jahren das „Hybridkraftwerk Prenzlau“ von Enertrag mit einem 500-kW-Elektrolyseur, einer Tonne Wasserstoff-Speicherkapazität und zwei Blockheizkraftwerken zur Stromerzeugung aus dem gespeicherten Wasserstoff.
Grün, grün, grün sind alle meine Kleider
Unsere beste – und im Sinne der Energiewende einzige – Option ist im Ergebnis „grüner Wasserstoff“, der sich aus erneuerbar erzeugtem Strom mittels Elektrolyse CO2-frei und umweltfreundlich aus bloßem Wasser erzeugen lässt. Technisch möglich ist dieses Verfahren seit Jahrzehnten. In einer kapitalistischen Wirtschaftswelt stellt jedoch immer eine alles entscheidende Frage: Lohnt sich das? Die Antwort auf diese Frage war bisher: Nein!
Wirkungsgrade entscheiden
Jede Energieumwandlung führt zwangsläufig zu Verlusten an Nutzenergie. Im Fall der Wasserelektrolyse können etwa 60 bis 80 Prozent der zugeführten elektrischen Energie in nutzbaren Wasserstoff umgewandelt werden. Im Umkehrschluss gehen 20 bis 40 Prozent der elektrischen Energie in Form von Abwärme verloren. Wird der Wasserstoff zum Transport auf 700 bar verdichtet, beträgt der Wirkungsgrad dieses Prozesses wiederum etwa 85 Prozent – erneut gehen folglich rund 15 Prozent der verbliebenen Nutzenergie verloren. Wird dieser Wasserstoff schließlich in einer Brennstoffzelle in Strom umgewandelt, gehen wiederum 40 bis 60 Prozent der im Wasserstoff vorhandenen Energie als Abwärme verloren. Bei stationären Brennstoffzellen zur Gebäudeenergieversorgung lässt sich diese „Abwärme“ im Gegensatz zu mobilen Anwendungen immerhin als wertvolle Heizenergie zur Wohnraumbeheizung und Warmwasserbereitung sinnvoll nutzen.
Es zeigt sich jedoch bei dieser Betrachtung, dass bei einer Wasserstoffwandlung realistischerweise 60 bis 80 Prozent der hochwertigen elektrischen Energie durch Verluste auf Nimmerwiedersehen verloren gehen – nicht nur bei grünem Wasserstoff aus Überschussstrom, sondern auch beim heute gängigen grauen Wasserstoff aus Erdgas. Diese Verluste muss man sich leisten können – und leisten wollen. Hätten wir grünen Strom zu niedrigsten Preisen im Überfluss, wäre Wasserstoff eingespeist in das Erdgasnetz und gespeichert in Kavernen eine veritable Option als Langzeitspeicher. Betrachtet man jedoch eine lokale Kurzzeitspeicherung, hat Wasserstoff gegen marktgängige Batteriespeicher mit bis zu 95 Prozent Wirkungsgrad keine Chance.
Mär vom Überschussstrom
Eine der wirtschaftlich entscheidenden Fragen beim Traum vom grünen Wasserstoff im Überfluss ist, ob sich die Elektrolyseanlagen rechnen – denn sonst werden diese nicht gebaut. Voraussetzung für günstigen Wasserstoff ist günstiger Grünstrom – und zwar in großen Mengen. Aber wir haben doch „Überschussstrommengen“, die sich kostenfrei nutzen lassen, mag man sich nun sagen. Überschussstrommengen sind Strommengen, die zwar erzeugt werden könnten, aber aufgrund von Engpässen im Netz nicht abtransportiert werden können und daher ungenutzt „abgeregelt“ werden müssen. Dies geschieht jedoch deutlich seltener, als es die allgegenwärtige Diskussion über diese Strommengen vermuten lässt.
Selbst im windreichen Schleswig-Holstein wurden laut Zahlen der Landesregierung für das Jahr 2018 nur 3 Prozent der Windstrommenge wegen Netzüberlastung zwangsweise abgeregelt. Betrachtet man die Bundesebene, so zeigen die jüngsten Daten der Bundesnetzagentur für das Jahr, dass der Wert mit 2,97 Prozent vergleichbar ist. Allerdings wären diese Strommengen keineswegs kostenlos zu haben, denn die örtlichen Stadtwerke und Wärmenetzbetreiber würden sie gerne vor Ort zur Wärmeerzeugung in günstigen Elektrodenkesseln oder effizienten Großwärmepumpen nutzen und dafür einen Marktpreis bezahlen. Sie tun es nur deshalb nicht, weil der Überschussstrom mit Abgaben und Steuern künstlich derart hoch belastet ist, dass er Stand heute teurer als Erdgas und Kohle ist. Nur deshalb wird er nicht genutzt und das Windrad zwangsweise abgeschaltet.
Welches Wirtschaftsunternehmen würde aber eine millionenschwere Elektrolyseanlage in einen Windpark bauen, die von den 8.760 Stunden eines Jahres nur knapp 250 Stunden Überschussstrom zur Verfügung hat und zu diesen kurzen Betriebszeiten auch noch Geld für den Strom zahlen müsste? Welchen Preis müsste dieser Wasserstoff aus Überschussstrom haben, damit sich solche Stillstandsanlagen für die Investoren bezahlt machen? Und wer soll den daraus entstehenden Wasserstoffpreis am Ende bezahlen? Auf diese Fragen gibt es bis heute nur eine Antwort: Wasserstoff wird kostengünstig mittels Dampfreformation aus fossilem Erdgas gewonnen – auf Kosten hoher CO2-Freisetzung in die Atmosphäre und unvereinbar mit dem Gedanken der Energiewende.
Milliarden vom Steuerzahler
Obwohl diese Punkte unter Experten hinlänglich bekannt sind, gibt die Bundesregierung seit dem Sommer 2020 in Sachen Wasserstoffwirtschaft Vollgas. Im Juni 2020 wurde vom Bundeswirtschaftsministerium eine ambitionierte „Nationale Wasserstoffstrategie“ vorgestellt, kurz darauf stellte der Bundestag im Rahmen des zur Bewältigung der Corona-Krise beschlossenen „Konjunktur- und Krisenbewältigungspaketes“ 9 Milliarden Euro für deren Realisierung bereit.
Die Bundesregierung will mit diesem gigantischen Förderprogramm einen „Markthochlauf von Wasserstofftechnologien in Deutschland“ anstoßen. Koordiniert wird die Milliardenförderung mit der Gießkanne durch einen mit den StaatssekretärInnen von fünf Bundesministerien besetzten „Staatssekretärsausschuss“, der wiederum von einem „Nationalen Wasserstoffrat“ aus WissenschaftlerInnen, BeamtInnen und VertreterInnen der Bundesländer beraten wird. Daneben soll eine „Leitstelle Wasserstoff“ eingerichtet werden, die jährlich einen Monitoringbericht über die Mittelverwendung erstellen soll.
Interessant ist neben dem ausgeklügelten Bürokratieapparat auch ein Blick auf die 38 konkreten Vorhaben der Wasserstoffstrategie. Direkt der zweite Punkt ist die Schaffung von „Möglichkeiten für neue Geschäfts- und Kooperationsmodelle von Betreibern von Elektrolyseuren mit Strom- und Gasnetzbetreibern“, wobei „der Änderungsbedarf des regulatorischen Rahmens zur Schaffung der dafür notwendigen Voraussetzungen entsprechend geprüft wird.“ An dieser Stelle wird klar, was hinter der Wasserstoffstrategie der Bundesregierung steht: Die Sicherung zukünftiger Renditen von Strom- und Gasnetzbetreibern. Aber damit nicht genug: Durch den Abbau von „regulatorischen Hemmnissen“ soll insbesondere „die Industrie unterstützt“ werden, um „Wasserstofftechnologien zu einem zentralen Geschäftsfeld der deutschen Exportwirtschaft [zu] entwickeln.“
Kritische Stimmen
Dass die geringe Energie- und Kosteneffizienz der Wasserstofftechnik ein nicht zu überwindendes Hemmnis für die wohlklingenden Pläne sein könnte, findet in dem Strategiepapier keine Erwähnung. Macht man sich jedoch mit dem Gedanken vertraut, dass die Wasserstoffstrategie überhaupt nicht der Energiewende dienen soll, sondern der Rettung von in Schieflage geratenen Industrie- und Energiekonzernen verpackt in ein vorgebliches Energiewendeprojekt, ergibt plötzlich alles einen Sinn.
Aber damit nicht genug. Dr. Hartmut Euler, Ministerialdirigent im Ruhestand und ehemaliger Leiter der Energieabteilung im Wirtschaftsministerium von Schleswig-Holstein, hat sich bereits überlegt, was die Folge der aktuellen Wasserstoffstrategie sein wird: „Wasserstoff aus Strom per Elektrolyseur zu erzeugen ist Energieverschwendung und führt uns letztendlich zurück zu Atom- sowie Kohlekraft und behindert alle Bemühungen zum Klimaschutz.“ Denn sind die Anlagen auf Kosten des Steuerzahlers gebaut, werden die wirtschaftlich denkenden Betreiber zusehen, dass ihre teuren Anlagen auch ausgelastet werden – im Zweifel mit günstigem Atom- und Kohlestrom aus dem europäischen Verbundnetz. Den dafür nötigen Netzausbau zahlen bereits die Energieverbraucher (siehe „Netzausbau im Überfluss“).
Erkenntnisse der Autoindustrie
Wie der Traum vom Allheilmittel Wasserstoff an den Gesetzen der Physik scheitern kann, lässt sich am Beispiel der deutschen Autoindustrie betrachten. Sie investierte in den 1990er-Jahren massiv in eine Wasserstoffzukunft, konstruierte Prototyp um Prototyp und präsentierte diese auf den Fahrzeugmessen. Bis heute ist kein Brennstoffzellenfahrzeug aus deutscher Produktion käuflich zu erwerben. Erhältlich sind zwei japanische Fahrzeuge, beide kosten über 75.000 Euro. Fahrzeuge wie der Mercedes „GLC FCell“ sind nur als Langzeit-Mietwagen oder im Rahmen von Erprobungsvereinbarungen bei Firmenkunden unterwegs. Nach der Statistik des Kraftfahrt-Bundesamtes wurden im Jahr 2019 nur rund 220 Brennstoffzellenfahrzeuge neu zugelassen – gegenüber gut 108.000 Elektro- und Plugin-Pkws.
Selbst der damalige Volkswagen-Entwicklungschef Frank Welsch konstatierte, dass es aus Effizienzgründen auf absehbare Zeit keine Brennstoffzellenfahrzeuge aus seinem Hause geben werde. Hierzu rechnete der Ingenieur trocken vor: Mit 100 kWh Strom komme ein batterieelektrisches Fahrzeug 500 Kilometer weit. Einem Brennstoffzellenfahrzeug gehe die gleiche Menge Energie nach nur 200 Kilometer aus. „Wenn wir die Mobilitätswende und die Umweltziele ernst nehmen, müssen wir uns daher auf den batterieelektrischen Antrieb konzentrieren“, so Welsch. Im wirtschaftlich und effizient denkenden Automobilbereich hat sich der Wasserstoffhype bereits verflüchtigt.
„Hype-Zyklus“
Die Gartner-Finanzanalystin Jackie Fenn hat mit dem sogenannten „Hype-Zyklus“ beschrieben, wie Wirtschaft und Gesellschaft typischerweise auf neue technologische Möglichkeiten reagieren: Auf den innovativen „technologischen Auslöser“ folgt ein rasanter Anstieg des öffentlichen Interesses, der steigt und steigt und schließlich in einem „Gipfel der überzogenen Erwartungen“ mündet. Es folgt ein „Tal der Enttäuschung“ und erst nach dieser geplatzten Hype-Blase folgt ein „Pfad der Erleuchtung“, der in einem realistischen „Plateau der Produktivität“ mündet.
Der „Hype-Zyklus“ beschreibt die Aufnahme neuer Technologien durch die öffentliche Wahrnehmung. Die Wasserstoffenergiewirtschaft dürfte derzeit auf dem Weg zum „Gipfel der überzogenen Erwartungen“ sein.
Ein Beispiel ist der Bitcoin-Hype. Die dahinterstehende Blockchain-Technologie hat im Bereich von Kryptowährungen und Smart-Contracts sinnvolle Anwendungsmöglichkeiten erschlossen. Aber sie eignet sich nicht, wie am Gipfel der überzogenen Erwartungen postuliert, für Stromabrechnungen, Zählerstandsübermittlungen oder das Bezahlen kleiner Summen im Alltag.
Im Mobilitätssektor hat die Wasserstofftechnik den „Gipfel der überzogenen Erwartungen“ längst überschritten und das „Plateau der Produktivität“ erreicht. Heute wird Wasserstoff dort als veritable Nischentechnologie angesehen, die nur in geeigneten Sonderfällen eingesetzt werden kann. Wasserstoff-Lkws zur Belieferung auf längeren Routen in der Schweiz oder Wasserstoffzüge auf nicht elektrifizierten Bahnstrecken im windreichen Niedersachsen sind gute Beispiele.
Im Energiesektor scheint der „Gipfel der überzogenen Erwartungen“ für Wasserstoff noch längst nicht in Sicht zu sein. Angesichts der bekannten Effizienzprobleme der Wasserstoff-Energiewirtschaft dürften die mit der Gießkanne großzügig zu verteilenden 9 Milliarden Euro Steuergeld sinnlos in den Kassen angeschlagener Energie- und Industriekonzerne versickern.
Nebelkerze gegen die Energiewende
In Erwartung des Allheilmittels „grüner Wasserstoff“ wird nun abermals massiv in fossile Strukturen investiert. Sobald die Wasserstoffblase in einigen Jahren platzt, wird der Sturz ins „Tal der Enttäuschung“ mit Insolvenzen und vernichteten Arbeitsplätzen umso härter ausfallen. Dabei gäbe es mit Solarenergie, Windkraft, Wasserkraft, Biomasse, Pumpspeichern, Druckluftspeichern und der Batterietechnologie solide, erprobte sowie zuverlässige und nachhaltige Technologien mit Zukunft, denen öffentliches Geld sicher nicht schaden würde.
Sinnvolle Wasserstoffanwendung: Der Coradia iLint von Alstom ist der erste Zug mit Brennstoffzellen-Antrieb zum Einsatz auf Strecken mit fehlender Oberleitung.
Doch den Regenerativen wurde und wird hierzulande gerne von der Politik der Stecker gezogen. 2012 beschloss die damalige CDU/CSU/FDP-Koalition ohne Vorwarnung von heute auf morgen eine radikale Kürzung der PV-Vergütungssätze. Der PV-Zubau brach schlagartig um 70 Prozent ein, die deutsche Solarindustrie ging zu Grunde, Zehntausende wurden arbeitslos, alle großen deutschen Solarfabriken und viele Installationsunternehmen im Handwerk mussten schließen. Unsere PV-Module kommen seither nahezu ausschließlich aus Fernost.
Bei der Windkraft vollzieht sich aktuell das gleiche Drama: Der Zubau ist von rund 6.500 MW im Jahr 2017 auf nur noch knapp 2.000 MW im Jahr 2019 eingebrochen. Vorläufige Schätzungen für den Windzubau im vergangenen Jahr 2020 sehen mit rund 1.600 MW noch düsterer aus. Grund sind die vom Gesetzgeber immer wieder verschlechterten Rahmenbedingungen. Nach über 80.000 verlorenen Arbeitsplätzen in der Solarindustrie steht uns jetzt ein Exodus der Windkraftbranche bevor, der nach Schätzungen der Gewerkschaften bis zu 140.000 Beschäftigten den Job kosten könnte.
Milliardeninvestitionen in eine künstliche Wasserstoffblase und der medial gern verbreitete Traum vom magischen Allheilmittel können zwar von diesen eklatanten Fehlentwicklungen und den Hemmnissen beim Ausbau erneuerbarer Erzeugungsanlagen ablenken, nur die Energiewende werden sie gewiss nicht voranbringen.
Wasserstoff im Heizungskeller
Das Berliner Startup HPS Home Power Solutions hat mit dem 60.000 bis 90.000 Euro teuren Energiesystem „picea“ die Wasserstoffwirtschaft für den Heizungskeller miniaturisiert. Es beweist, dass eine autarke Stromversorgung von Wohngebäuden mit Solarenergie mittels Wasserstoffspeicherung möglich ist. Das System wird mit PV-Strom gespeist, besitzt einen Elektrolyseur, einen großen Wasserstoff-Saisonspeicher, eine Brennstoffzelle, die Strom und etwas Wärme erzeugt, sowie eine Batterie zur Abfederung von kurzzeitigen Lastspitzen.
Für die Heizwärmebereitstellung im Winter ist das System auf ein zusätzliches konventionelles Heizsystem angewiesen. Angesichts des Preises und der Notwendigkeit einer zusätzlichen Heizung stellt sich jedoch zwangsläufig die Frage der Wirtschaftlichkeit und des Gesamtnutzens. Die Stromspeichereffizienz beziffert der Hersteller mit rund 40 Prozent. Da die Abwärme aus allen Wandlungsprozessen genutzt wird, soll der Gesamtnutzungsgrad mehr als 85 Prozent betragen.
Können uns die Erneuerbaren ganzjährig mit Energie versorgen, auch wenn im Winter wenig Sonne scheint und längere Windflauten eintreten? Die Antwort lautet: Ja! Man braucht dazu einen Überfluss an Wind- und Sonnenkraft, Stromleitungen, Reservekraftwerke und Speicher. Fossil- und Atomkraftwerke können dann gefahrlos abgeschaltet werden. weiter lesen
Licht in der Dunkelflaute
Können uns die Erneuerbaren ganzjährig mit Energie versorgen, auch wenn im Winter wenig Sonne scheint und längere Windflauten eintreten? Die Antwort lautet: Ja! Man braucht dazu einen Überfluss an Wind- und Sonnenkraft, Stromleitungen, Reservekraftwerke und Speicher. Fossil- und Atomkraftwerke können dann gefahrlos abgeschaltet werden.
Von Aribert Peters
(4. Juni 2021) Erneuerbare Energie gibt es in Hülle und Fülle, auch in Deutschland. Genutzt wird davon leider noch wenig: Derzeit nutzen wir erneuerbare Energien für knapp 50 Prozent des Stroms und 15 Prozent des Gesamtenergiebedarfes. Wir müssen, können und wollen diesen Anteil in den kommenden Jahren schnell auf 100 Prozent erhöhen. Einerseits hat sich Deutschland vertraglich im Zuge des Klimaschutzabkommens von Paris dazu verpflichtet, andererseits gibt es sonst keine Chancen für die Stabilisierung des Weltklimas.
Photovoltaikausbau
Würde man auf allen Dächern Deutschlands PV-Anlagen installieren, könnte man damit allein so viel Strom erzeugen, wie in Deutschland verbraucht wird (504 TWh). Die auf Dächern installierbare PV-Leistung beträgt 500 GW, rechnet man die Fassadenflächen hinzu, dann sind es 900 GW (bdev.de/eggers). Würde man auch auf Äckern PV-Anlagen bauen, sogenannte Agri-Photovoltaik, und darunter weiter Landwirtschaft betreiben, könnte man theoretisch nochmals 1.700 GW PV-Leistungen installieren (bdev.de/agripv). In Städten könnte man zudem Photovoltaik mit einer Leistung von 154 GW über Parkplätzen und ähnlichen Flächen installieren (bdev.de/urbanepv). Zum Vergleich: Bisher wurden nur PV-Anlagen mit einer Leistung von etwa 50 GW installiert.
Windkraftausbau
Eine Untersuchung der Ingenieurgesellschaft Windguard zeigt, dass durch den Einsatz modernerer Windenergieanlagen, die auch bei Schwachwind hohe Leistungen erzielen, allein auf den bisher ausgewiesenen Flächen die Windstromerzeugung von 100 auf 200 TWh verdoppelt werden könnte. Heute ist in Deutschland nicht einmal ein Prozent der Gesamtfläche für Windenergie ausgewiesen. Doch schon damit könnten wir bei einer Modernisierung bestehender Anlagenstandorte – dem sogenannten Repowering – knapp 40 Prozent unseres Strombedarfes decken. Würde dieser Flächenanteil auf 2 Prozent verdoppelt, so würde allein die Windkraft 80 Prozent unseres Strombedarfes decken!
Überschussstrom
Zu den gerne erzählten Stammtischweisheiten zählt, dass schon heute Unmengen an erneuerbarem Strom nicht genutzt werden – insbesondere, weil es am Netzausbau fehle (siehe „Netzausbau im Überfluss“). Die Wahrheit ist: Nur zwei Prozent des mit den heutigen Anlagen erzeugbaren, erneuerbaren Stroms kann wegen Netzüberlastung oder Stromüberschuss nicht in das Stromnetz eingespeist werden (bdev.de/bnetaq3). Erst wenn dieser Überschuss an erneuerbarem Strom deutlich höher ist, würde es sich lohnen, ihn für knappe Zeiten zu speichern.
Dunkelflautenhäufigkeit
Der Deutsche Wetterdienst hat untersucht, wie oft Erneuerbare Erzeugungsanlagen pro Kalenderjahr über 48 Stunden hinweg weniger als 10 Prozent ihrer üblichen Leistung erbrachten: Bei Windkraftanlagen auf dem Land war das innerhalb eines Jahres 23-mal der Fall, bei Hinzunahme von Off-Shore-Windkraftanlagen nur 13-mal, mit PV-Anlagen nur 2-mal. Bei einer hypothetischen europaweiten Betrachtung tritt das Schreckgespenst 0,2-mal pro Jahr auf – also statistisch betrachtet alle fünf Jahre einmal. Häufigkeit und Dauer künftiger Versorgungslücken hängen folglich vom Stromverbrauch, dem Ausbaustand der Erneuerbaren und der Größe der betrachteten Region ab.
Sicherstellung der Stromversorgung bei Dunkelflauten
Versorgungssicherheit im Energiebereich in der Gesetzgebung
Überkapazitäten als Lösung
Durch einen raschen Ausbau der Erneuerbaren verringert sich das Dunkelflautenproblem in doppelter Hinsicht: Dauer und Häufigkeit von Engpässen im Winter nehmen ab. Zudem steht im Sommer mehr Überflussstrom zur Verfügung, der in Wasserstoff sowie synthetische Kraftstoffe umgewandelt und im Winter genutzt werden kann. Die verbleibenden Versorgungslücken im Winter können Stromspeicher und Reservekraftwerke gemeinsam decken. Transportleitungen und Lastminderungen tun ein Übriges.
Die Höchstlast im Deutschen Stromnetz liegt derzeit bei rund 80 GW. Ein erneuerbares Stromversorgungssystem wird allen einschlägigen Studien zufolge eine Leistung zwischen 400 und 700 GW bereitstellen, also ein Vielfaches der aktuellen Höchstlast.
Beim derzeitigen Ausbautempo der Erneuerbaren wird es einen nennenswerten Stromüberschuss im Sommer frühestens in 10 Jahren geben. Bis dahin steigt aber auch die Stromnachfrage durch den Umstieg auf Stromheizungen und die Elektromobilität an. Deshalb muss die Ausbaugeschwindigkeit der Erneuerbaren deutlich zulegen.
Studie: Energiesystem Deutschland 2050
Forschungs-Projekte Kombikraftwerk2
Die populären Irrtümer des Professors
Studie über Lösungsansätze
Wie kann man künftig dann den erneuerbar erzeugten Strom aus Zeiten des Überflusses in die knappen Zeiten von Dunkelflauten ohne Wind und ohne Sonnenertrag hinüberretten? Dazu gibt es viele Möglichkeiten, die in einer Studie des Ingenieurbüros BET beziffert und bewertet werden.
Speichermöglichkeiten
- Power-to-Gas bietet als Langfristspeichermöglichkeit ein praktisch unbegrenztes Potenzial. Der Wirkungsgrad Strom-Gas-Strom liegt nur bei rund 30 Prozent – lässt sich jedoch bei Nutzung der Abwärme (Kraft-Wärme-Kopplung und Nahwärmenetze) auf bis zu 90 Prozent erhöhen. Erneuerbares Gas ist einfach, in großen Mengen und langfristig in Kavernen speicherbar.
- Nachfrageregelung: Durch zeitweise abschaltbare Stromlieferverträge kann die Leistungsnachfrage in der Spitze gekappt werden. Die Potenziale betragen rund 4 GW in der Industrie, 2 GW bei Haushalten und weitere 2 GW bei Wärmepumpen.
- Pumpspeicherkraftwerke: Sie haben Kapazität, um den Stromverbrauch Deutschlands für rund 30 Minuten zu decken. Andere Länder in Europa wie die Schweiz, Österreich und Norwegen haben wesentlich größere Speicherkapazitäten.
- Notstromaggregate: Sie können kurzfristig und für einige Stunden einspringen mit einer Leistung von 5 bis 8 GW.
- Blockheizkraftwerke: Sie könnten mit Biogas, Erdgas oder Wasserstoff so betrieben werden, dass sie das Stromnetz stabilisieren. Dieses Potenzial wird heute kaum genutzt. Die meisten Bestandsanlagen werden für den Eigenverbrauch betrieben, da sich eine Stromeinspeisung aufgrund von Steuern, Umlagen und Abgaben sowie einer geringen Einspeisevergütung kaum lohnt. Sie könnten – richtig genutzt – eine Leistung von bis zu 25 GW bereitstellen.
- Überflussstrom kann über elektrische Heizstäbe Häuser zeitweise beheizen. Der Strom spart dadurch fossile Brennstoffe und Emissionen ein. Bei Stromknappheit kann der eingesparte Brennstoff später genutzt werden.
- Druckluftspeicher ermöglichen hohe Leistungen und können bei Nutzung vorhandener Salzkavernen (CAES) große Speichermengen nutzen, weisen dabei jedoch nur einen geringen Wirkungsgrad auf.
Regierungsbericht
Die Bundesregierung hat 2019 einen Bericht zur Versorgungssicherheit veröffentlicht. Dieser kommt zu dem Schluss, dass in den kommenden Jahren auf dem Strommarkt jederzeit ein bedarfsgerechter Ausgleich von Angebot und Nachfrage erreicht werden kann, man spricht von der „Lastausgleichswahrscheinlichkeit“. Der Bundesrechnungshof kritisierte diesen Bericht im März 2021: „Das Bundeswirtschaftsministerium muss dringend aktuelle und realistische Szenarien untersuchen. Außerdem muss es ein „Worst-Case“-Szenario untersuchen, in dem mehrere absehbare Risiken zusammentreffen, die die Versorgungssicherheit gefährden können“.
Netzausbau
Wenn ein Über- und Unterangebot von Stromerzeugung quer über Deutschland oder Europa hinweg ausgeglichen werden könnte, dann ist die Situation wesentlich einfacher, als wenn dieser Ausgleich nur kleinräumig möglich ist. Kommt ein maßvoller Netzausbau nur langsam voran, dann gibt es einen höheren Bedarf für ebenfalls teure kurz- und längerfristige Speicherung.
Regulierungsrahmen
Ein vollständig erneuerbares Energiesystem muss klug reguliert werden: Durch Gesetze, durch Steuern und Anreize sowie durch Schaffung von Verantwortlichkeiten für die Versorgungssicherheit. Ein solcher Ordnungsrahmen muss schnellstens geschaffen werden. Er schafft Sicherheit für die Versorgung, für die Verbraucher und die Investoren. Das ist, so Prof. Uwe Leprich, eine dringende gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe. „Ein neues Design für das künftige Strom-Wärme-System muss vom Ende her neu gedacht und gestaltet werden.“
Fazit
Können die Erneuerbaren eine stabile Stromversorgung sicherstellen, wenn die Atom-, Kohle und Gaskraftwerke stillgelegt werden und wir unseren Strombedarf zu 100 Prozent erneuerbar decken? Die Skeptiker halten das – ganz pauschal – für unmöglich. In vielen Studien wurde
seit Jahren hingegen immer wieder genau durchgerechnet, wie mit geringen zusätzlichen Kraftwerkskapazitäten, die nur kurzzeitig benötigt werden, eine Versorgungssicherheit hergestellt werden kann. Die Rahmenbedingungen dafür müssen umfassend neugestaltet werden.
Der Ausbau der erneuerbaren Energien erfolgt angesichts der Klimakrise viel zu langsam. Noch immer gibt es gemessen an der Stromnachfrage viel zu wenig erneuerbare Erzeugungskapazitäten. Das ist angesichts der drastisch gesunkenen Erzeugungskosten für Wind- und PV-Strom nicht nachvollziehbar.
schließenDie Schicksalswahl für den Klimaschutz rückt näher. Viele Menschen hätten sich in den vergangenen vier Jahren mehr Klimaschutz von der Politik gewünscht, insbesondere beim Ausbau erneuerbarer Energien, im Verkehr und im Gebäudebereich. Im September 2021 entscheiden wir darüber, ob dem Klimawandel in den kommenden vier Jahren endlich die nötige Priorität eingeräumt wird. weiter lesen
Bundestagswahl ist Klimawahl
Die Schicksalswahl für den Klimaschutz rückt näher. Viele Menschen hätten sich in den vergangenen vier Jahren mehr Klimaschutz von der Politik gewünscht, insbesondere beim Ausbau erneuerbarer Energien, im Verkehr und im Gebäudebereich. Im September 2021 entscheiden wir darüber, ob dem Klimawandel in den kommenden vier Jahren endlich die nötige Priorität eingeräumt wird.
Von Aribert Peters
(17. Mai 2021) Die Politik der nächsten Bundesregierung wird darüber entscheiden, ob wir unsere Verpflichtungen des Pariser Klimaschutzabkommens einhalten werden. Viele Bürger wollen eine klimaaktive Bundesregierung wählen. Klimaschutz sollte an erster Stelle der politischen Agenda stehen. Was planen die in Klimagruppen engagierten Bürger? Und wie können Sie selbst aktiv werden?
Es gibt bereits eine sehr große Zahl von aktiv für den Klimaschutz engagierten Menschen. Sie wollen ihren Mitmenschen vermitteln, was bei dieser Wahl auf dem Spiel steht: Dass es um das Überleben der Spezies Mensch geht. Ich möchte Sie an dieser Stelle mit einigen der sehr zahlreichen Aktionen vertraut machen, die gerade mit großer Intensität vorbereitet werden. Vielleicht wollen Sie an der einen oder anderen Aktion sogar selbst aktiv mitwirken?
Die Klimaaktivisten sind bereits sehr breit aufgestellt: Das Spektrum reicht von Kirchen über Gewerkschaften, den Mieterbund bis zum Verbraucherschutz. Viele Organisationen wirken zusammen in der Klimaallianz, in der auch der Bund der Energieverbraucher e.V. seit Jahren Mitglied ist. Die Fridays-Bewegung besteht inzwischen aus zahlreichen eigenständigen Gruppen, die vom Together for Future e.V. beraten und koordiniert werden. Darüber hinaus gibt es sehr viele Gruppen, die bundesweit und örtlich wirken wie zum Beispiel Extinction Rebellion, Ende Gelände aber auch die etablierten Naturschutzverbände wie NABU, Greenpeace sowie der BUND sowie natürlich auch unzählige kleine lokale Gruppen ohne große Organisation im Hintergrund.
Die große Vielfalt der Initiativen zeigt eines ganz deutlich: Es gibt sehr viele Menschen, die sich aktiv für mehr Klimaschutz und eine Umgestaltung der Gesellschaft einsetzen. Es gibt auch eine gute Vernetzung zwischen diesen Gruppen und Aktivitäten. Wer sich nicht in Aktionsgruppen oder Organisationen engagieren möchte, hat zahlreiche Möglichkeiten, seine Meinung in den politischen Prozess einzubringen. Ein besonders wirksames Werkzeug sind Gespräche mit denjenigen, die gewählt werden wollen. Kandidaten auf ein politisches Amt wollen den WählerInnen gefallen, man muss sie daher spüren lassen, dass dies nur gelingen kann, wenn sie die Themen Klimaschutz, Energiewende und Verbraucherschutz ernst nehmen.
Vergleicht man den CO2-Ausstoß führender Industrienationen pro Kopf, zeigt sich das klimaschädliche Verhalten Deutschlands, aber auch eine leicht positive Entwicklung. In den kommenden zehn Jahren kann und muss es eine Halbierung geben.
Versprechen für den Klimaschutz
Jeder kann ab Mitte Mai 2021 online ein Versprechen abgeben, dem Klimaschutz bei seiner Wahlentscheidung die höchste Priorität einzuräumen sowie mit Freunden, Verwandten und Kollegen darüber zu sprechen. Unter dem Titel „Klima-Pledge: meine Stimme für die Zukunft“ wollen Campact, Deutscher Naturschutzring, Klimaallianz, die Fridays-Bewegungen und der NABU über eine Million Versprechen sammeln.
Klima-Wahlcheck
Ein verbändeübergreifender Klimawahlhelfer wird die Wahlprogramme der Parteien auf Klimaschutzaspekte bewerten und die Ergebnisse – ähnlich wie der bekannte Wahl-O-Mat – interaktiv darstellen. Das Tool „Klima-Wahlcheck“ wurde bereits für Landtags- und Kommunalwahlen genutzt und soll von Parents for Future, Fridays for Future und mit fachlicher Beratung durch die Scientists for Future auch für die Bundestagswahl bereitgestellt werden. Darüber hinaus veröffentlicht die Klima-Allianz Deutschland Bewertungen der Parteien und andere Infos zu den Klimawahlen auf Ihrer Webseite.
Klimaschutzgesetz verlangen
Ein Sofortprogramm nach der Bundestagswahl muss die wichtigsten Bremsen für wirksamen Klimaschutz lösen. Wie ein entsprechendes „Klimaschutzgesetz“ konkret aussehen soll, darüber machen sich viele Experten Gedanken, koordiniert vom Verein German Zero.
#WähltKlimaschutz
Die Klima-Allianz macht mit der Kampagne #WähltKlimaschutz in den sozialen Medien auf die Notwendigkeit und Relevanz einer sozial gerechten und 1,5-Grad-kompatiblen Klimapolitik aufmerksam. Das aktuelle Motto lautet: „Wir stellen uns auf den Kopf, weil das Klima Kopf steht.“ Sollten Sie auf dem Kopf stehende Profilbilder im Internet sehen, nimmt die betreffende Person wahrscheinlich an dieser Aktionsform teil.
Bürgerrat Klima
Am 26. April 2021 hat der mit 160 zufällig ausgelosten Personen besetzte Bürgerrat Klima seine Arbeit aufgenommen. Im Herbst soll ein von diesen Bürgern ausgearbeitetes Papier über die konkrete Ausgestaltung der klimaneutralen Zukunft Deutschlands vorgelegt werden. Die kommende Bundesregierung wird durch Empfehlungen des Bürgerrates nicht gebunden – wird sich aber zu rechtfertigen haben, wenn ihre Politik hinter den Vorschlägen des Bürgerrates zurückbleibt. In Frankreich und Irland haben Bürgerräte bereits bewiesen, dass diese Form der Politikberatung funktionieren kann. Die harten Kernforderungen wie ein niedrigeres Tempolimit auf Autoroutes, Klimasteuern auf Dividenden und die Aufnahme von Umweltschutz als Staatsziel in die Verfassung hat Präsident Emmanuel Macron direkt abgelehnt, musste dafür über Monate harsche Kritik einstecken und teilweise einlenken. Inzwischen befinden sich von rund 150 konkreten Vorschlägen des französischen Bürgerrates rund 45 in Umsetzung.
Omas for Future
Die Omas for Future planen bundesweit ihre Forderungen an die Politik auf bunte Bänder zu malen. Initiiert wurde diese Aktionsform von Cordula Weimann. Mit den Forderungsbanderolen sollen überall im Land Bäume geschmückt werden. Und danach wollen die Omas mit vielen Fahrrädern nach Berlin radeln, um dort die Bänder an die Politik zu übergeben.
Zukunftsbilder
Wie sieht eine klimaverträgliche Zukunft aus? Dazu entwickeln die Scientists for Future unter dem Titel „Rückblick aus der Perspektive 2040“ unterschiedliche Zukunftsbilder. Eine ähnliche Aktion haben Parents for Future unter dem Titel „Vision 2035“ gestartet. Die Bilder sollen künstlerisch gestaltet werden und eine Vorstellung davon vermitteln, wie ein klimaverträgliches Leben konkret aussehen könnte.
Gespräche mit Politikern
Bürger sollen mit ihren örtlichen Wahlkreisabgeordneten sowie Wahlkandidaten über die 1,5-Grad-Politik reden und ihnen ein Versprechen für mehr Klimaschutz abverlangen. Die Idee dahinter: „Industrie-Lobbyisten reden ständig mit dem Bundestag. Wenn wir gehört werden wollen, müssen wir das auch tun!“ Die Aktion Schwarm for Future des Together for Future e.V. bietet dazu Material und ein Online-Training an. Besonders vor Wahlen suchen Politiker in ihrem Wahlkreis das Gespräch mit Bürgern und wollen zuhören. Dies ist die beste Gelegenheit, um den Willen von uns Bürgern an die Politiker heranzutragen.
schließenDie Bundesregierung plant, Deutschland bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu machen. Die Wissenschaft, das Paris-Abkommen und Klimaaktivisten fordern jedoch, dass die Klimaneutralität bis zum Jahr 2030 oder 2035 erreicht werden müsse. Können wir das schaffen? weiter lesen
Klimaneutral bis 2035: Illusion oder Möglichkeit?
Die Bundesregierung plant, Deutschland bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu machen. Die Wissenschaft, das Paris-Abkommen und Klimaaktivisten fordern jedoch, dass die Klimaneutralität bis zum Jahr 2030 oder 2035 erreicht werden müsse. Können wir das schaffen?
Von Dr. Aribert Peters
(16. Februar 2021) Eine globale Erwärmung über zwei Grad hätte weltweit verheerende Folgen – sagt die Wissenschaft. Um das zu verhindern, müssen wir innerhalb des kommenden Jahrzehnts etwas hinbekommen, was es in der Geschichte noch nie gegeben hat: Unser Leben und unsere Gesellschaft vollkommen verändern. Es ist nicht egal, ob wir bis 2050 klimaneutral werden, wie es die Regierung plant, oder schon 2035. Die allermeisten Wissenschaftler sind davon überzeugt, dass es für die Menschheit einen fundamentalen Unterschied ausmacht: Nämlich den zwischen Leben und Sterben. Ausschlaggebend sind die sogenannten „Kipppunkte“ des Klimas – überschreiten wir diese Punkte, kippt das System für immer. „Das kommende Jahrzehnt wird das entscheidende sein für die Zukunft der Menschen auf der Erde“, meint der schwedische Klimaforscher Johan Rockström.
Genügend Sonnenenergie
Klimaneutralität bedeutet, dass Fossilenergien durch Erneuerbare ersetzt werden. Das ist selbst für Deutschland möglich, wie jeder selbst einfach nachvollziehen kann: Die Sonne schickt auf jeden Quadratmeter Deutschlands jährlich rund 1.000 kWh, den Energieinhalt von rund 100 Litern Öl. Das sind 350.000 TWh, weil Deutschland 350.000 Quadratkilometer groß ist. Der gesamte Energieverbrauch Deutschlands (Primärenergie), nicht nur Strom, liegt bei jährlich etwa 3.500 TWh. Also schickt die Sonne uns hundertmal mehr Energie als wir benötigen. Statt wie derzeit 70 Prozent unseres Energieverbrauchs zu importieren, könnten wir auf einem Bruchteil der Fläche Deutschlands unseren gesamten Energieverbrauch vollkommen klimaneutral decken. Und das wäre sogar kostengünstiger als die Verbrennung fossiler Energien. Es ist in vielen hundert Studien genau durchgerechnet worden, dass dies möglich ist und wie das im Detail aussieht: Für den Verkehr, für die Gebäude, für die Industrie, für das Gesamtsystem. Selbst im Winter und nachts, wenn die Sonne nicht scheint, wird bei kluger Organisation genug Energie zur Verfügung stehen. „Knapp sind nicht die erneuerbaren Energien, knapp ist die Zeit“, schrieb Hermann Scheer, Solarvisionär und Träger des Alternativen Nobelpreises.
Sachverständigenrat für Umweltfragen
Der Weltklimarat IPCC hat aufgezeigt, dass zwischen den aufsummierten menschenverursachten CO2-Emissionen und der weltweiten Temperaturerhöhung ein direkter Zusammenhang besteht. Um den für die vergangenen Jahrzehnte gemessenen raschen Anstieg der Erdtemperatur zu stoppen, müssen auch diese CO2-Emissionen ein Ende finden. Damit die in Paris vereinbarten Grenzen der Erwärmung eingehalten werden, dürfen nach Berechnungen des IPCC weltweit seit 2018 nur noch 580 Gigatonnen CO2 emittiert werden.
Der von der Bundesregierung eingesetzte Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) hat in seinem im Mai 2020 veröffentlichten Jahresgutachten errechnet, dass für Deutschland ab dem Jahr 2020 nur ein Restbudget von 4,2 Gigatonnen CO2 verbleibt, wenn man die weltweit zulässigen Emissionen gleichmäßig auf die Weltbevölkerung verteilt. Würde man berücksichtigen, dass Deutschland in der Vergangenheit schon weit mehr CO2 als andere Staaten emittiert hat, dann stünden Deutschland gar keine Emissionen mehr zu.
Bei unveränderten CO2-Emissionen von jährlich 0,7 Gigatonnen ist, so der SRU, das deutsche Emissionsbudget bereits im Jahr 2026 aufgebraucht. Der SRU empfiehlt, den zügigen Ausbau erneuerbarer Energien, um aus den Fossilenergien schnell genug aussteigen zu können, Verbrauchssenkung und Effizienzerhöhung bei einem gleichzeitigen Verzicht auf Atomenergie sowie auf die CO2-Abscheidung bei Kraftwerken (CCS).
Politisches Handeln: Ungenügend
Die Klimapolitik der Bundesregierung kommt bei den Umweltsachverständigen schlecht weg: „Die deutschen Klimaschutzziele reichen nicht aus, um das Pariser Klimaabkommen zu erfüllen.“ Einerseits seien die Klimaschutzziele zu wenig ambitioniert, um die Pariser Klimaschutzziele zu erreichen (Ambitionslücke) und andererseits werden selbst die wenig ambitionierten Ziele verfehlt (Umsetzungslücke).
Die Sachverständigen empfehlen: „Die Umsetzungslücke zwischen bestehenden Klimazielen und der Emissionsentwicklung sollte zügig geschlossen werden. Und das Ambitionsniveau der deutschen Klimaschutzziele sollte neu beurteilt und erhöht werden, um es an die aus dem Pariser Klimaschutzabkommen folgenden Notwendigkeiten anzupassen.“ Darin sind sich die offiziellen Umweltsachverständigen der Bundesregierung und die meisten Klimaaktivisten einig.
FFF-Wuppertal-Studie
„Klimaneutralität bis 2035 ist für Deutschland tatsächlich erreichbar. Zumindest technisch und ökonomisch betrachtet. Die dafür notwendigen Veränderungen in Politik und Gesellschaft sind massiv. Ein außerordentlicher politischer Gestaltungswille ist deshalb unabdingbar.“ Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Wuppertal Instituts vom Oktober 2020 für die Fridays-for-Future-Bewegung. Schon der Titel verrät, worum es geht: „Eckpunkte eines deutschen Beitrags zur Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze“.
Methodisch gesehen hat das Wuppertal Institut zahlreiche der bisher vorliegenden Studien daraufhin untersucht, ob sich die bis 2050 möglichen Umstellungen auch bereits bis 2030 oder 2035 erreichen lassen.
Die von der Studie abgeleiteten Maßnahmen erfordern eine doppelt so hohe Zu- beziehungsweise Umbaurate wie derzeit von der Regierung realisiert. Diese erhöhte Geschwindigkeit wird angesichts von Planungszeiten, der Erneuerungszyklen und Technologieentwicklung laut Studie nicht in allen Fällen realisierbar sein. „Für einen derart schnellen Umbau großer Teile des Wirtschaftssystems gibt es bisher kein Beispiel“, so die Studie. Diese Transformation erfordert nicht nur ambitionierte, sondern teils radikale strukturelle Veränderungen.
Die Studie entwickelt jedoch kein in sich konsistentes Szenario für das Jahr 2035, denn dies bleibe künftigen Untersuchungen vorbehalten. Allerdings: „Die Analysen der Studie legen nahe, dass das Erreichen von CO2-Neutralität bis zum Jahr 2035 aus technischer und ökonomischer Sicht zwar extrem anspruchsvoll wäre, grundsätzlich aber möglich ist.“ Ob die massiven Herausforderungen und strukturellen Veränderungen der notwendigen „Großen Transformation“ realisierbar sind, hängt von der gesellschaftlichen und politischen Bereitschaft zur massiven Veränderung ab. „Ist diese gegeben, so stehen der Zielerreichung keine unüberwindlichen Hindernisse entgegen.“ Erforderlich sind laut der Studie tiefgehende und komplexe Umstrukturierungen hin zu nachhaltigem Konsum, Kreislaufwirtschaft und Suffizienzstrategien. Im November 2020 wurde darüber hinaus eine weitere Studie unter dem Titel „Klimaneutrales Deutschland“ von Prognos, dem Öko-Institut und dem Wuppertal Institut veröffentlicht.
Video: “Der Weg zu 1,5 Grad”? – Vorstellung & Diskussion der 1,5°C-Studie des Wuppertal Instituts für FFF
Handbuch Klimaschutz
Mit dem gleichen Ansatz hat ein anderes Forscherteam unter der Leitung von Karl-Martin Hentschel in einer umfangreichen Untersuchung mehr als 300 Studien zur Klimaneutralität ausgewertet und in verständlicher Form zusammengefasst. Auftraggeber war der Verein „Mehr Demokratie“ und das Bürgerbegehren Klimaschutz. Das daraus entstandene „Handbuch Klimaschutz“ fasst die zentralen wissenschaftlichen Ergebnisse der bisherigen Klimaforschung zusammen und ist als Faktengrundlage für den gerade gestarteten deutschlandweiten Klima-Bürgerrat nach dem Vorbild Frankreichs geplant.
Selbst rechnen
Wer sich seine eigene Energiewende rechnen will, wird im Internet mit Programmen und Daten unterstützt. Zu nennen ist das Agorameter und die Energy-Charts (energy-charts.info) des Fraunhofer-Instituts.
Effizienz und Suffizienz
Der Energieverbrauch kann durch Einsparungen und Änderung des Verbrauchsverhaltens (Suffizienz) beträchtlich verringert werden. Die meisten Studien rechnen mit einer Einsparung von 30 Prozent bis zum Jahr 2030 und von 50 Prozent bis zum Jahr 2050. Die Energiewende beendet somit die enorme Energieverschwendung durch Großkraftwerke, schlecht gedämmte Häuser und große ineffiziente Verbrennungsautos und die intelligente Gestaltung der künftigen Energieversorgung spart gewaltige Energiemengen ein. Der Schüssel zum Erfolg ist die unterschiedliche Wertigkeit von Energie – die Exergie. Gerade beim Transport der Energie in Zeit und Raum – zwischen Regionen, Tagen und Jahreszeiten – kommt es auf sparsame und kluge Lösungen an:
Stromerzeugung als Schlüssel
Die meisten CO2-Emissionen entstehen bei der Stromerzeugung: derzeit rund 30 Prozent. Die Stromerzeugung steht deshalb im Zentrum aller Studien. Es geht an dieser Stelle um eine schnelle Umstellung der Stromerzeugung von gegenwärtig 52 Prozent auf 100 Prozent erneuerbare Energien bis zum Jahr 2035. Die Klimaneutralität des Verkehrs- und Gebäudesektors basiert wiederum wesentlich auf der Nutzung umweltfreundlich erzeugten Stroms. Zusätzlich rechnen alle Prognosen mit Wasserstoff und E-Fuels, die aus erneuerbarem Strom erzeugt werden. Dadurch steigt der künftige Stromverbrauch deutlich an. Alle Studien gehen deshalb von einem gewaltigen Ausbau der erneuerbaren Stromerzeugung aus. Für ein klimaneutrales Deutschland wäre laut vieler Studien eine erneuerbare Kapazität zwischen 500 und 700 GW notwendig, wenn größere Energieimporte ausscheiden. Im Minimum brauchen wir 300 GW an erneuerbaren Stromerzeugungskapazitäten. 110 GW davon waren bis zum Jahr 2019 installiert. Laut Wuppertal-Studie müssten jetzt Windkraft- und Photovoltaik-Anlagen in einer Größenordnung von 25 bis 40 GW pro Jahr neu gebaut werden. Die Realität bleibt weit dahinter zurück: Der Windstromzubau müsste sich dazu vervierfachen, der Solarstromzubau verachtfachen.
Selbst ein minimal erforderlicher Zubau von jährlich 15 GW liegt deutlich über den derzeitigen Ausbauzielen und erst recht über den tatsächlichen Zubauraten von 2,8 GW Wind und 4,6 GW PV zwischen 2018 und 2019. Allerdings wurden in der Vergangenheit in Spitzenjahren bereits Zubauraten von 8 GW bei PV (2012) und von 2.000 Windkrafträdern mit insgesamt 5 GW bei Onshore-Wind (2017) und von über 2 GW bei Offshore-Wind (2015) erreicht – seither wurden allerdings die Rahmenbedingungen verschlechtert. Selbst das im Dezember 2020 novellierte Erneuerbare-Energien-Gesetz belastet den Neubau von Solaranlagen mit einer Umlage, um genau solche Anlagen zu fördern: Grotesker kann Politik nicht zeigen, wie viel Angst sie vor Solar- und Windkraftanlagen hat und in wessen Interesse sie agiert. Die rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Strommarkts müssen grundlegend geändert werden, um erneuerbare Stromerzeugungsanlagen schnell neu entstehen zu lassen.
Fünf Jahre Paris: Digitaler Klimagipfel
Ein virtueller Gipfel am 12. Dezember 2020 ersetzte das ursprünglich für November 2020 geplante und wegen Corona verschobene Treffen der Vertragsstaaten der Klimarahmenkonvention „COP 26“ im schottischen Glasgow. Eingeladen zu dem virtuellen Treffen waren nur Länderchefs, die anspruchsvolle Ambitionen im Gepäck hatten. Im Internet kann man alle Reden des Treffens ansehen. Es sind bewegende Bekenntnisse von Staatschefs, Firmenchefs und der Führer der Zivilgesellschaft. Darunter sind Prinz Charles, der Papst und Xi Jinping – Trump, Putin, Erdogan und Bolsonaro glänzten durch Abwesenheit. Die Dringlichkeit und die Gemeinsamkeit aller Länder und aller Akteure kommt in jedem Statement zum Ausdruck und signalisiert einen globalen Wandel in den Überzeugungen der Menschen, die diese Welt lenken.
Der UN-Generalsekretär António Guterres sparte nicht an deutlichen Worten in seiner Begrüßungsansprache: „Auch fünf Jahre nach Paris bewegen wir uns immer noch nicht in die richtige Richtung“. Die damals abgegebenen Versprechen seien nicht genug und sie würden bislang nicht einmal ausreichend umgesetzt. Wenn man den Kurs nicht ändere, steuere man bis Ende des Jahrhunderts auf eine Temperaturerhöhung von über drei Grad zu.
China machte die Zusage, bis zum Jahr 2030 Solar- und Windkraftanlagen im Umfang von 1.200 Gigawatt zu errichten. Zum Vergleich: In Deutschland sind derzeit erneuerbare Kapazitäten von 110 GW installiert. Finnland will bis zum Jahr 2035 klimaneutral sein, Dänemark bis zum Jahr 2030 seine Emissionen um 70 Prozent reduzieren, die EU um 55 Prozent.
Global update: Paris Agreement Turning Point: bdev.de/climateactiontrack
Wer soll das bezahlen?
Strom aus neu errichteten PV- und Windkraftanlagen ist schon heute günstiger als aus fossilen oder atomaren Anlagen – selbst, wenn diese alt und längst abgeschrieben sind. Der Ausbau der Erneuerbaren ist also ein höchst rentables Investment. Etliche Studien belegen die wirtschaftlichen Vorteile des Wandels. Nur die Eigentümer der bisherigen Kraftwerke und die mit ihnen verbundenen Lobbyisten und Politiker wehren sich gegen den Wandel, versuchen ihn aufzuhalten und schlechtzureden, wie Peter Becker in seinem neusten und umfangreich recherchierten Buch „Vom Stromkartell zur Energiewende: Aufstieg und Krise der deutschen Stromkonzerne“ zeigt.
Eine Studie der Universität Berkeley in Kalifornien vom Juni 2020 hat gezeigt, dass die Preise für eine Stromerzeugung aus Wind und Sonne unter Nutzung von Batteriespeichern in den vergangenen 5 bis 10 Jahren so stark gesunken sind, dass bereits bis 2035 die US-Stromerzeugung zu 90 Prozent auf saubere Energien umgestellt werden kann, ohne dass dies Mehrkosten verursachen würde. Im Gegenteil: Der erneuerbare Strom wäre sogar 10 Prozent günstiger als fossil erzeugter Strom. Die Erzeugungskosten der Erneuerbaren lagen in dieser Betrachtung mit 4,6 US-Cent/kWh unter den Kosten konventioneller Erzeugung von 5,1 US-Cent/kWh. Jährlich müssten dazu in den USA 70 GW an neuer erneuerbarer Kapazität errichtet werden. Es würden zudem auf Dauer 1,8 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen und ein Wirtschaftswachstum von 1.700 Milliarden US-Dollar generieren. Der Bericht zeigt erstmalig, dass es billiger ist, das Klima zu retten, als es zu zerstören. Ähnliche Studien gibt es von der finnischen LTU-Universität für Europa und die ganze Welt.
Auch das bereits genannte Handbuch Klimaschutz bezeichnet die 1,5-Grad-Umstellung als rentable Investition (S. 47). Das Fraunhofer IWES hat 2014 in einer Studie die Energiewende durchgerechnet und als eine risikoarme Investition mit einer positiven Gewinnerwartung bezeichnet, die zu großen Gewinnen von 4 bis 7 Prozent jährlich führt.
Greta ‘Fridays for future’ – one more KEY POINT : bdev.de/rencheap
Was geht uns das an?
Der SRU äußerte sich zum notwendigen Politikwandel und zur anstehenden Bundestagswahl im Herbst 2021 wie folgt: „Trotz einer Vielzahl an Einzelmaßnahmen und Erfolgen in Teilbereichen addiert sich die Nachhaltigkeitsstrategie insgesamt nicht zu den notwendigen Veränderungen auf. Aus diesem Grund ist eine neue Qualität in der Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik notwendig. Dazu benötigt die deutsche Nachhaltigkeitspolitik trotz bereits erzielter Fortschritte in zahlreichen Bereichen einen Neustart“. Der Journalist Michael Bauchmüller kommentierte am 15. Dezember 2020 in der Süddeutschen Zeitung die Regierungspolitik: „Wenn nichts geschieht, wird das nächste Jahrzehnt nicht die Dekade des Aufbruchs, sondern des Hinterherrennens“.
Am 26. September 2021 wählt Deutschland einen neuen Bundestag. Und der wird die Weichen neu stellen. In welche Richtung – das liegt an uns! Wir haben eine Wahl, eine Klimawahl. Wir sollten schon jetzt durch Briefe an die Parteien und bisherigen Abgeordneten klarmachen, was wir erwarten und anhand der Positionierung der Kandidaten und Parteien wiederum entscheiden, welche Wahl wir treffen. www.klimawahlen.de
Kurze Antworten auf große Fragen
In seinem letzten Buch „Kurze Antworten auf große Fragen“ brachte Stephen Hawking das wissenschaftlich-politische Dilemma um den Klimawandel wie folgt auf den Punkt:
„Die größte Bedrohung für unseren Planeten wäre vermutlich der Zusammenstoß mit einem Asteroiden, aber die letzte Kollision fand vor 66 Millionen Jahren statt. Sie löschte die Dinosaurier aus. Eine deutlich akutere Gefahr für die Menschheit ist der Klimawandel, der aus dem Ruder läuft. Ein Anstieg der Meerestemperatur würde die Polareiskappen abschmelzen und die Freisetzung großer Mengen von Kohlendioxid verursachen. Beide Prozesse könnten dazu führen, dass wir ein Klima wie auf der Venus mit einer Temperatur von weit über 250 Grad bekommen.
Gleichzeitig leugnen viele Politiker die Realität eines von Menschen verursachten Klimawandels – oder jedenfalls die Fähigkeit des Menschen, ihn aufzuhalten, und das genau zur selben Zeit, da unsere Welt mit mehreren höchst bedrohlichen Umweltkrisen konfrontiert ist. Die akute Gefahr besteht, dass die Globalerwärmung selbst erhaltend wird, wenn das nicht schon eingetreten ist. Das Abschmelzen der Eiskappen in der Arktis und Antarktis reduziert den Anteil an Sonnenenergie, der in den Weltraum zurückgestrahlt wird, und erhöht damit die Temperatur noch weiter. Der Klimawandel vernichtet mutmaßlich den Regenwald im Amazonasgebiet und andere Regenwälder, womit einer der wichtigsten natürlichen Prozesse verschwindet, durch den Kohlendioxid aus der Atmosphäre beseitigt wird. Der Anstieg der Meerestemperatur könnte große Mengen Kohlendioxid freisetzen. Beide Phänomene würden den Treibhauseffekt und damit die globale Erwärmung insgesamt verstärken. Menschliches Leben wäre nicht mehr möglich. Mit unserer Zukunft auf dem Planeten Erde gehen wir nach meiner Überzeugung mit unverantwortlicher Gleichgültigkeit um.“
Die Klimakrise nimmt erschreckende Ausmaße an. Wirtschaft und Politik reagieren darauf bisher nicht adäquat. Das Nichthandeln, so sehen es immer mehr Menschen, bedroht das Überleben unserer Spezies. Aribert Peters berichtet über die verschiedenen Formen des Protestes: Auf der Straße, in den Gerichtssälen und in den Kommunen. weiter lesen
Die Zivilgesellschaft formiert sich
Die Klimakrise nimmt erschreckende Ausmaße an. Wirtschaft und Politik reagieren darauf bisher nicht adäquat. Das Nichthandeln, so sehen es immer mehr Menschen, bedroht das Überleben unserer Spezies. Aribert Peters berichtet über die verschiedenen Formen des Protestes: Auf der Straße, in den Gerichtssälen und in den Kommunen.
Von Aribert Peters
(18. November 2020) Die Klimakrise überholt uns gerade. Was befürchtet wurde, spielt sich bereits vor unseren Augen ab. Und alles kommt schneller und schlimmer als vorhergesehen. Aber das ist erst der Anfang. Die Klimawissenschaft ist zu der Gewissheit gelangt, dass die Klimakrise größtenteils menschenverursacht ist. Man braucht kein Schwarzseher zu sein, um zu erkennen: Die Zeit zum Handeln ist spätestens jetzt. „Fridays for Future“, „Extinction Rebellion“, die Partei „radikal:klima“ in Berlin, der Think-Tank „German Zero“, die Aktivistengruppe „Ende Gelände“, der „Verein für eine nationale CO2-Abgabe“ sowie viele, viele andere Gruppierungen und Organisationen – die Zivilgesellschaft merkt, dass die Zeit davonläuft und formiert sich.
Der Journalist Dirk Steffens schreibt dazu treffend: „Die Corona-Krise ist wahrscheinlich klein im Vergleich zu Krisen wie Artensterben, Klimawandel und all den anderen Ökoproblemen. Ich subsumiere das unter dem Begriff ‚Ökokrise‘. Jedes Jahr – so die Zahlen der Weltgesundheitsorganisation WHO und der NASA – sterben bis zu neun Millionen Menschen an den Folgen der Umweltverschmutzung. Und haben Sie irgendwelche Krisenmaßnahmen gesehen? Haben Sie nationale Rettungspakete gesehen? Haben Sie gesehen, dass die Regierung auch nur ansatzweise so entschlossen dagegen vorgeht wie gegen das Coronavirus? Nein!“
Bremse und Gas gleichzeitig
Stark vereinfachend gesprochen – nichts anderes lässt der beschränkte Raum hier zu – tut die Politik nichts: Sie ernennt die Energiewende zwar zum Regierungsprogramm, torpediert sie aber gleichzeitig nach Kräften: Faktischer Ausbaustopp für Photovoltaik und Windkraft durch überzogene Abstandregeln, Ausschreibung, Bürokratie, EEG-Umlage auf erneuerbaren Strom und vieles mehr. Es gibt keine Gebäudeenergiewende, keine Verkehrswende, keinen vernünftigen Mieterstrom und künftig kommt gerade mal eine minimale CO2-Steuer. Überall dasselbe Bild: Verbale Zustimmung und faktische Hintertreibung. Die Politik ist hier schizophren: Sie tritt gleichzeitig auf das Gas und die Bremse. So geht es nicht vom Fleck. Die Politik ist genauso gespalten wie die Bürger des Landes. Luisa Neubauer von Fridays for Future brachte es in ihrer Rede auf der TAZ-Jahresversammlung 2020 auf den Punkt: „Die große entscheidende Frage der Zeit an die Politik lautet: Wie plant ihr uns zu retten? Bisher gibt es keinen Plan, keine Idee, wie es gehen soll, wie die Paris-Ziele erreicht werden könnten. Die Mächtigen sind ohne Willen, die Willigen ohne Macht.“
„Politik ist die Kunst, das Notwendige möglich zu machen.“
Kardinal Richelieu
Weiter so?
Die Gesellschaft als Ganzes steht vor der Entscheidung: Weiter so – oder nicht? Die Kräfte der Beharrung sind sehr stark. Immer ist es einfacher, alles so zu lassen, denn dafür muss man gar nichts tun. Eine Änderung dagegen fordert starke Kräfte, Einigkeit, und eine Überwindung der Trägheitsmomente. Noch dazu sind die Wirtschafts- und Meinungseliten eng mit der fossilen Energiewirtschaft verflochten.
Psychologisch betrachtet ist das Nichtstun immer ungefährlich. Etwas Neues erscheint hingegen als ein Wagnis, ein Risiko. Bei der Klimakrise ist es jedoch genau umgekehrt: Hier hat das „weiter so“ der vergangenen vier Jahrzehnte die Klimakrise überhaupt erst verursacht. Und ein weiteres Nichtstun führt uns mit großer Sicherheit ins Verderben, so die Klimawissenschaft. Nur dringt diese Erkenntnis langsam – viel zu langsam – in die Köpfe.
Klimagerechtigkeit als Systemfrage
Die Klimakrise beschleunigt sich und das politische System reagiert nicht angemessen darauf. Die politische Lethargie mobilisiert die Zivilgesellschaft, sie radikalisiert und eint die Protestbewegungen, über alle Altersgruppen und Ländergrenzen hinweg. Die Profiteure des fossilen Systems halten dagegen: Sie finanzieren Klimaleugner (siehe „Marionetten der Fossilwirtschaft“), beeinflussen Politiker und Journalisten, streuen Angst vor Änderungen, diffamieren die Aktivisten und bedrohen Wissenschaftler sogar persönlich. Und sie schieben die Verantwortung für die Klimakrise gern den Verbrauchern zu: „Ändert Ihr doch mal Euer Verhalten“. Das ist ein durchsichtiger Trick nach dem Schema: Haltet den Dieb. Denn die politischen Rahmenbedingungen müssen dringend und durchgängig geändert werden, damit ökologisches Verhalten sich durchsetzt.
„Zweifle nie daran, dass eine kleine Gruppe engagierter Menschen die Welt verändern kann – tatsächlich ist dies die einzige Art und Weise, in der die Welt jemals verändert wurde.“
Margaret Mead
Gemeinsam ist den Klimaaktivisten die Fassungslosigkeit darüber, dass sich Politik, Verwaltung und Wirtschaft weigern, die Weichen für den notwendigen tief greifenden Wandel richtigzustellen. Konsequent wird deshalb „das System“ infrage gestellt mit der Forderung: „System Change – No Climate Change“. Klimagerechtigkeit wird eingefordert, zwischen der heutigen und den künftigen Generationen und zwischen entwickelten Ländern als Verursachern der Klimakatastrophe und den armen Ländern als Leidtragenden.
bdev.de/riseupforchange
Gewaltfreier Ungehorsam
Ziviler Ungehorsam ist ein gezielter Verstoß gegen rechtliche Normen aus Gewissensgründen, um Unrechtssituationen zu beseitigen. Er war die Blaupause vieler erfolgreicher Bürgerbewegungen nach dem Vorbild von Mahatma Ghandi, Martin Luther King und der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Die renommierte US-Friedensforscherin Erica Chenoweth hat 323 gewaltsame und gewaltfreie Bewegungen der vergangenen 100 Jahre untersucht. Das Ergebnis: Gewaltfreie Aktionen haben eine doppelt so hohe Erfolgschance. Gewaltfreier ziviler Ungehorsam ist ein wichtiger Bestandteil der Demokratie, der Demokratisierung von unten ermöglicht, so Erica Chenoweth.
bdev.de/chenoweth
Die verschiedenen Klima-Protestgruppen unterscheiden sich in dieser Frage deutlich: Fridays for Future agiert wesentlich vorsichtiger als die Extinction-Rebellion-Bewegung und diese wiederum deutlich zurückhaltender als die Bewegung „Ende Gelände“. Die Aktivitäten aller Gruppen zielen darauf ab, eine Mehrheit in der Bevölkerung zu gewinnen und durch politischen Druck Änderungen zu erzeugen.
Wende im Kleinen
Anders als auf der behäbigen Bundesebene setzt sich der Bürgerwille an der „politischen Basis“ auf kommunaler Ebene schneller durch. In vielen Gemeinden wird aktiver und vorbildlicher Klimaschutz vorangetrieben. Nicht wenige Kommunen erklären den Klimanotstand und beschließen Klimaneutralität als Ziel. Vorneweg dabei sind die Städte Münster und Bonn. In Bonn hat der Rat der Stadt zudem Bürgerforen beschlossen, in denen zufällig ausgewählte Bürger an den Entscheidungen mitwirken.
Finanzmärkte achten auf Nachhaltigkeit
Auch bei Geldanlegern rücken grüne Investments in den Fokus und gelten inzwischen als „Zukunftschance“. So hat beispielsweise der weltweit größte Finanzinvestor „Blackrock“ das Thema Nachhaltigkeit ins Zentrum seiner Investitionsstrategien gerückt und im Januar 2020 alle Unternehmensvorstände zu deutlichen Verhaltensänderungen aufgefordert. Die aufstrebende Wirtschaftsmacht China hat bis 2060 Nullemissionen angekündigt. Zusammen mit der Europäischen Union sind damit 51 Prozent der globalen Emissionen auf dem erklärten Weg zu Nettonull. Selbst der Ölmulti BP hat seine Unternehmensstrategie neu auf Nachhaltigkeit ausgerichtet.
Klimaklagen
Zahlreiche Bürger und von der Klimakrise Betroffene haben neben den klassischen Protestformen einen neuen Weg eingeschlagen: Sie klagen vor Gerichten auf ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit und Zukunft. In Deutschland sind vor dem Bundesverfassungsgericht mehrere Klagen anhängig, die die Unzulänglichkeit des Klimagesetzes beanstanden.
Umweltverbände und auch die Fridays-for-Future-Bewegung unterstützen diese Klagen. Das Gericht hat in der Vergangenheit den weiten politischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers betont. Zu welchem Schluss das Verfassungsgericht bezüglich mangelnden Klimaschutzes gelangt, ist bisher noch offen.
Auf EU-Ebene wurde die von Greenpeace unterstützte Klimaklage durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) im vergangenen Jahr zurückgewiesen. Sechs Kinder und Jugendliche aus Portugal klagen inzwischen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gegen die Regierungen Europas, dass mangelnder Klimaschutz ihre Menschenrechte gefährde.
Andere Klimaklagen waren bereits erfolgreich. Im Jahr 2015 hatte beispielsweise ein nationales niederländisches Gericht in Den Haag der Stiftung „Urgenda“ Recht gegeben. Die Niederlande müssen ihre Treibhausgasemissionen um mindestens 25 Prozent statt nur um 17 Prozent verringern, urteilte das Gericht. Die niederländische Regierung ging dagegen in Revision. Im vergangenen Dezember bestätigte das oberste Gericht der Niederlande das ursprüngliche Urteil und gab damit der Klimaklage statt.
Anfang August dieses Jahres hat zudem das Oberste Gericht Irlands die Regierung des Landes zur Räson gerufen. Dabei ging es um den Plan, mit dem die irische Regierung die Emissionen bis 2050 um 80 Prozent gegenüber 1990 senken wollte. Auf die Klage der Organisation „Friends of the Irish Environment“ hin urteilten die Richter, der Plan sei zu vage. Die Regierung muss nun nachbessern.
Demokratie ertüchtigen
Die Ertüchtigung der Demokratie steht auf der Agenda vieler Menschen, die sich von der Politik inzwischen im Stich gelassen fühlen. Die Klimakrise offenbart die Mängel des derzeitigen Parlamentarismus: Krebsartiger Lobbyismus, Parteienklüngelei anstelle persönlicher Verantwortung der Gewählten sowie kurzfristiges auf Wahltermine fixiertes Handeln. Auch sind bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Beamte und Rechtsanwälte, insbesondere aber alte gebildete Männer, in den Parlamenten deutlich überrepräsentiert.
Die Demokratie ist trotz ihrer Mängel die beste Garantie zur Vermeidung von Kriegen und staatlichen Massentötungen, wie die Politikwissenschaftler Rudolph Joseph Rummel und Erica Chenoweth herausgefunden haben. Andererseits wird der Mehrheitswille durch Techniken der gezielten Meinungsbeeinflussung gesteuert, so die These von Rainer Mausfeld. Wir haben darüber hier schon ebenso berichtet wie über alternative Demokratiekonzepte wie der „flüssigen Demokratie“.
BürgerInnenversammlungen
Statt die repräsentative Demokratie zu ersetzen, will die Klimaprotestbewegung sie durch das Votum von BürgerInnenversammlungen ergänzen und stärken. Bei einer BürgerInnenversammlung handelt es sich um ein zufällig ausgelostes, aber repräsentatives Gremium von BürgerInnen. In einem mehrere Monate dauernden, moderierten Prozess berät sich diese Gruppe auf der Basis ausgewogener Informationen über ein komplexes Thema, erarbeitet eine Reihe von möglichen Maßnahmen und entscheidet darüber.
Problematisch ist die Art, wie Ergebnisse von BürgerInnenversammlungen im politischen Entscheidungsprozess berücksichtigt werden. Wenn es sich um reine Empfehlungen handelt, dann haben BürgerInnenversammlungen nur einen sehr geringen Einfluss auf das politische Geschehen. Ein Negativbeispiel ist die in Island von der Bevölkerung erarbeitete neue Verfassung. Sie hat bei der Bevölkerung eine qualifizierte Zweidrittelmehrheit gefunden, wurde aber vom Parlament verworfen.
Ein positives Beispiel ist die im Juni 2020 abgeschlossene „Convention Citoyenne pour le Climat“. Sie beratschlagte in Frankreich zu der Fragestellung „Wie können die Treibhausgasemissionen in Frankreich bis 2030 auf sozial gerechte Weise um mindestens 40 Prozent gesenkt werden?“. Dabei schlug sie 149 sehr konkrete und weitreichende Maßnahmen vor, darunter drei Verfassungsänderungen.
In Deutschland hat der Bundestag im Juni 2020 den ersten „Bürgerrat“ auf Bundesebene angekündigt. Der Auftrag an die gelosten BürgerInnen ist ein Gutachten zum Thema „Rolle Deutschlands in der Welt“. Inwieweit die Themen Klimawandel und ökologischer Kollaps darunter behandelt werden – und was mit den Ergebnissen überhaupt passiert – ist noch unklar.
Fazit
Die Klimakrise und unser Anteil daran sind ebenso wenig zu ändern, wie die daraus folgende Bedrohung unseres Überlebens als Spezies. Wir müssen rasch dafür sorgen, dass unsere Klimagasemissionen aufhören und wir uns auf die künftigen geänderten Klimabedingungen einstellen. Das kann nur mit Gemeinsamkeit, Mut, Optimismus und demokratischer Entschlossenheit gelingen. Es gibt zahlreiche ermutigende Ansätze.
Mondays for Future: Freitag demonstrieren, am Wochenende diskutieren und ab Montag anpacken und umsetzen
Prof. Dr. Claudia Kemfert | 21. April 2020 | 200 Seiten | Murmann Publishers | ISBN: 978-3867746441 | 18,00 Euro
Vom Ende der Klimakrise: Eine Geschichte unserer Zukunft
Luisa Neubauer und Alexander Repenning | 14. Oktober 2020 | 304 Seiten | 2. Auflage | Tropen | ISBN: 978-3608504798 | 10,00 Euro
Im Hambacher Wald: oder Die Kolonisierung der Erde durch die Untergrabung der Freiheit
Gert Reising | 25. Februar 2020 | 88 Seiten | Dielmann Verlag | ISBN: 978-3866382749 | 16,00 Euro
Wütendes Wetter: Auf der Suche nach den Schuldigen für Hitzewellen, Hochwasser und Stürme
Dr. Friederike Otto | 3. August 2020 | 240 Seiten | Ullstein Taschenbuch | ISBN: 978-3548062556 | 18,00 Euro
Was verleitet Menschen dazu, erwiesene Fakten und einen weltweiten wissenschaftlichen Konsens zur Klimakrise leichtfertig beiseite zu wischen? Warum sind Zweifel an der Klimakrise so bequem, so wirkungsvoll und so verheerend? weiter lesen
Berechtigte Zweifel an den Zweifeln
Was verleitet Menschen dazu, erwiesene Fakten und einen weltweiten wissenschaftlichen Konsens zur Klimakrise leichtfertig beiseite zu wischen? Warum sind Zweifel an der Klimakrise so bequem, so wirkungsvoll und so verheerend?
Ein Kommentar von Aribert Peters.
(12. November 2020) Die Klimaleugner organisieren weltweit eine Beharrungsbewegung, die jeden Wandel ablehnt. Sie sind gut finanziert und organisiert durch die direkten Lobbyisten sowie als „Think-Tanks“ getarnte Lobbyorganisationen der Fossilenergien und ultrakonservativer Parteien.
Deren Einflussnahme auf Politik und Medien ist inzwischen gut dokumentiert, zum Beispiel im Artikel „Marionetten der Fossilwirtschaft“ von Dr. Eva Stegen. Zur Vertiefung zu diesem Artikel möchte ich Ihnen das im Juni 2020 ganz frisch erschienene Buch „Die Klimaschmutzlobby – Wie Politiker und Wirtschaftslenker die Zukunft unseres Planeten verkaufen“ der beiden freien Journalistinnen Susanne Götze und Annika Joeres empfehlen. Dieses Werk zeigt die Verbindungen von Industrie, Politik und Klimakrisenleugnern minutiös auf. Die Autorinnen haben bis tief in die Szene der Klimaleugner hinein recherchiert. Es zeigt sich, dass Klimakrisenleugner keine kleine versprengte Gruppe von irrelevanten Spinnern sind, sondern im Bundestag, im Europaparlament, in Lobbygruppen, in neoliberalen Think-Tanks und an Hochschulen sitzen. Selbst im Bundeswirtschaftsministerium ist eine der Abteilungsleitungen für Energiepolitik entsprechend besetzt und nutzt ihre Weisungsbefugnis, um die Arbeit der Energieabteilung entsprechend zu steuern.
Video: Interview mit Susanne Götze und Annika Joeres
Großer Einfluss der Leugner
Obwohl sich die Positionen der Klimaleugner gegen die Fakten nicht verteidigen lassen, haben sie enormen Einfluss auf Politik und Gesellschaft – sie verhindern so eine angemessene Reaktion auf die Klimakrise. Die Argumente sind grotesk falsch, unsinnig und wissenschaftlich unhaltbar. Sie werden aber geschickt vorgetragen, richtige Fakten werden hingegen falsch gedeutet und verdreht, es wird weggelassen und gelogen. Dieser toxische Mix wird mit großem medialen und -finanziellen Aufwand flächendeckend verbreitet, bis in die Schulen hinein. Sogar bis heute. Das kann man beispielsweise nachlesen in den Papieren: „Die CO2-Schwindelei“ von 2019, aber auch im „Klimamanifest 2020 der Werte-Union“. Viele Leser der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) und der „Welt“ halten die Klimakrise selbst heute noch für eine Erfindung von Linken und Grünen.
Der Klimawandel in 20 Worten:
- Er ist real
- Wir sind die Ursache
- Er ist gefährlich
- Die Fachleute sind sich einig
- Wir können noch etwas tun
Quelle: Was wir heute übers Klima wissen – Basisfakten, die in der Wissenschaft unumstritten sind. Kostenfreies eBook herausgegeben vom Deutschen Klima-Konsortium, der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft, dem Deutschen Wetterdienst, dem Extremwetterkongress Hamburg, der Helmholtz-Klima-Initiative und klimafakten.de
Bedrohung der Wahrheit
„Die Schwemme an bezahlter oder politisch motivierter Propaganda ist nicht nur eine Gefahr für die Demokratie und ein Rückfall hinter die Zeit der Aufklärung. Sie ist eine Gefahr für die Lebensgrundlagen der Menschheit“ schreibt der Potsdamer Klimaforscher Stefan Rahmstorf. Rahmstorf erhielt sogar persönliche Drohmails. Seiner Familie werde etwas passieren, wenn er den Mund nicht halte. Und er ist nicht der Einzige, der mit Hasskommentaren bedroht wird.
Rhetorische Tricksereien
Die Wissenschaftsleugner bedienen sich oft derselben rhetorischen Tricks, sei es beim Leugnen der Klimakrise, des Coronavirus, der Evolutionstheorie oder der Schädlichkeit des Rauchens. Meist handelt es sich um grobe Pauschalisierungen auf Stammtischniveau wie „die Wissenschaft ist korrupt“, oder um falsche Verallgemeinerungen wie „Helmut Schmidt hat geraucht und ist 97 geworden“, die als allgemeingültig dargestellt werden. Auch die Suche nach einer einfachen Erklärung für komplexe Zusammenhänge oder gar Zufälle lässt Verschwörungstheorien sprießen wie Unkraut. Bullshit-Gläubige und Bullshit-Quellen haben laut empirischen Untersuchungen charakterliche Gemeinsamkeiten: Grobe Selbstüberschätzung gepaart mit oberflächlichem Denken. Es lohnt sich, die Techniken der Wissenschaftsverleugnung zu kennen.
Ein Blick in die Natur
Eine kleine Anekdote: Als Gleitschirmflieger weiß ich, dass im Siebengebirge bei Bonn wie auch in anderen Wäldern Deutschlands die Wälder seit ein paar Monaten verheerend aussehen. Infolge jahrelangen Wassermangels konnten sich die Bäume nicht mehr gegen den Borkenkäfer wehren. Gigantische Waldflächen fielen der Trockenheit bereits zum Opfer. Traurige Ironie: Sogenannte Bürgerinitiativen, gut vernetzt mit den Klimaleugnern, hatten 2013 bis 2018 unter Berufung auf das durch Windkraftanlagen gefährdete Landschaftsbild den Bau von Windkraftanlagen in genau den Waldgebieten verhindert, die es jetzt auch infolge der Klimakrise nicht mehr gibt. Die Vögel, die man durch die Verhinderung von Windkraft schützen wollte, bedanken sich.
Klimawandel oder Klimakrise?
Ist Ihnen aufgefallen, dass ich bisher das Wort „Klimawandel“ in diesem Text vermieden habe? Das Wort „Klimawandel“ ist angesichts der aktuellen Ereignisse eine Beschönigung aus der Klimaleugner-Ecke. Ein Wandel ist schön, eine Erwärmung ist es eigentlich auch. Eine zivilisationsgefährdende globale Erwärmung ist eine tödliche Gefahr und darf nicht kleingeredet werden. Das Foto oben zeigt keinen Wandel, sondern die Klimakrise – eine Katastrophe.
Die Kunst des Zweifelns
Zweifel an der Klimawissenschaft sind eine beliebte Rechtfertigung fürs Nichtstun. Zweifel gelten aber auch als Grundelement des Erkenntnisfortschritts und der Wissenschaft. Wissenschaft beruht auch auf Zweifeln. Aber nicht jeder Zweifel ist wissenschaftlich und sinnvoll. Ein sinnvoller Zweifel muss begründet sein. Und er muss nachvollziehbar und überprüfbar sein. Wissenschaftlicher Zweifel setzt voraus, dass man mit der kritisierten Wissenschaft vertraut ist. Ein Bauchgefühl, eine Intuition oder eigene Unwissenheit als Zweifel anzuführen, ist hingegen weder logisch noch wissenschaftlich. Dennoch hat jeder das Recht auf Zweifel. Aber nicht jeder Zweifel verdient es auch gehört, ernst genommen und diskutiert zu werden. Es gibt also Zweifel erster und zweiter Klasse. Man sollte Zweifel am Zweifel hegen, der eigentlich gar kein echter Zweifel ist. Leider wird allzu oft ein unverdächtig wirkender Zweifel missbraucht, um wirtschaftlich motivierte Widerstände gegen Veränderungen durchzusetzen.
bdev.de/zweifelkrise
Fazit
Die Anfälligkeit der Gesellschaft für die Thesen der Klimaleugner lässt sich gut durch eine Reihe sich verstärkender Faktoren erklären: Die Interessen der Fossilindustrie, die Käuflichkeit von Politik, den Widerstand der Etablierten gegen Veränderungen und die Neigung von Menschen, lieber alles beim Alten zu lassen und nichts zu tun.
Die Klimaschmutzlobby: Wie Politiker und Wirtschaftslenker die Zukunft unseres Planeten verkaufen
Susanne Götze und Annika Joeres | 2. Juni 2020 | 304 Seiten | 2. Auflage | Piper Verlag | ISBN: 978-3492070270 | 20,00 Euro
Heißzeit: Mit Vollgas in die Klimakatastrophe – und wie wir auf die Bremse treten
Prof. Dr. Mojib Latif | 29. Juni 2020 | 224 Seiten | Verlag Herder | ISBN: 978-3451386848 | 20,00 Euro
Zieht euch warm an, es wird heiß!: Wie wir noch verhindern können, dass unser Wetter immer extremer wird
Sven Plöger | 2. Juni 2020 | 240 Seiten | Westend | ISBN: 978-3864892868 | 19,95 Euro
Marionetten der Fossilwirtschaft weiter lesen
Marionetten der Fossilwirtschaft
Von 13.950 nach wissenschaftlichen Standards erstellten Studien kommen 13.926 zu dem eindeutigen Ergebnis, dass der Klimawandel real ist und von uns Menschen verursacht wird.* Trotz dieses überwältigenden wissenschaftlichen Konsenses sind Klimaskeptiker und Klimawandelleugner im Internet und unseren Medien allgegenwärtig. Wie kommt das?
Von Dr. Eva Stegen
(6. November 2020) Unsicherheit und Zweifel an der Existenz der globalen Erwärmung säen im Internet in erster Linie sich selbst als Experten ausgebende Laien, die eine Weltverschwörung wittern und Thesen von konservativen Think-Tanks sowie PR-Agenturen und Influencern aufgreifen. Eine Filterblase aus sich selbst gegenseitig bekräftigenden Verschwörungstheoretikern gibt den Verwirrten das trügerische Gefühl, selbst mit den abstrusesten Positionen im Recht zu sein. Dabei gehen sie selbst einer Verschwörung gegen die Wahrheit auf den Leim, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
FUD-Spirale für Profit und Aufmerksamkeit
Die Strategie dahinter ist einfach, aber bestechend: Durch das Säen von Furcht, Ungewissheit und Zweifeln (englisch „Fear, Uncertainty and Doubt“, kurz „FUD“) auf breiter Front werden Menschen verunsichert und letztendlich selbst „skeptisch“, was wiederum die gläubigen Klimawandelleugner als Bestätigung empfinden und ihre Anstrengungen zur „Aufklärung“ der „Schlafschafe“ intensivieren. Dass sich die Wissenschaft unabhängig von der zunehmend desinformierten Bevölkerung weiterhin zu 99,8 Prozent einig ist, dass der Klimawandel real und menschengemacht ist, spielt in der Internet-Filterblase der Klimawandelleugner keine Rolle.* Hier reichen die 0,2 Prozent der den Klimawandel verneinenden Wissenschaftler, die immer wieder unter Ausblendung jeglicher Statistik von Skeptikern sowie Leugnern zitiert werden und durch genau diese Aufmerksamkeit eine ihre Position verfestigende Bestätigung erfahren.
„Es ist schwierig, jemandem etwas verständlich zu machen, wenn sein Einkommen davon abhängt, es nicht zu verstehen.“
Upton Sinclair, 1935
Trump dir die Welt, wie sie dir gefällt
Er ist dumm, laut, selbstgefällig und verlogen. Alle wissen es. Man sieht seine Berater innerlich zusammenbrechen, während er irgendeinen Unfug von sich gibt. Und jedes Mal geht ein neuer Aufreger um die Welt, nicht zuletzt, weil es vielen Menschen das gute Gefühl gibt, diesem Kleinkind, gefangen im orangefarbenen Körper eines alten Mannes, kognitiv überlegen zu sein. Doch was hat er mit der Energiewende in Deutschland zu tun?
Vögel, die Windkraftanlagen erschießen sollen und die Forcierung des Ausbaus sauberer Kohlekraftwerke. So lässt sich die Energiestrategie des US-Präsidenten zusammenfassen.
Pro Kohle, kontra Windenergie
„Es ist saubere Kohle und wir haben die modernsten Verfahren, aber es ist eine ungeheure Energie, im Sinne dass, […] also militärisch. Ich denke, dass Kohle unzerstörbar ist. Sie können eine Pipeline in die Luft jagen, Sie können die Windräder in die Luft jagen. Wissen Sie, die Windräder […]“ Er zieht eine Grimasse und kreist mit dem Finger in der Luft. „Bom – Bom – Bom.“ Dann zielt er mit einem imaginären Gewehr: „PENG! Das ist das Ende des Windrads! Wenn die Vögel es nicht vorher töten. Die Vögel können es zuerst töten“. Ohne Atempause werden in der nächsten Volldrehung die Opfer- und Täter-Rollen ins Gegenteil verkehrt. Die Vögel, die gerade noch mit Leichtigkeit die Windräder gekillt haben, sind nun selbst Opfer – und zwar massenhaft: „Sie bringen so viele Vögel um. Wenn Sie unter diese Windräder schauen. Es ist wie ein Schlachtfeld. Diese Vögel.“ In der sich anschließenden Salve von unfertigen Halbsätzen und kruden Assoziationsketten arbeitet Trump die üblichen, x-fach widerlegten Mythen zur Windkraft ab, die man auch immer wieder von Windkraftgegnern in Deutschland hört. Nur eines muss man zumindest einigen der hiesigen Windkraftkritiker zugutehalten: sie äußern sich oft nicht in Ansätzen so stupide, wie es der US-Präsident tut. Für so jemanden schämen sich selbst die eigenen Parteigenossen. Mit so einem möchte man nicht zusammen gesehen werden.
Was hat Trump mit der Windkraft hierzulande zu tun?
Und doch, es gibt Zusammenhänge zwischen den von Trump wiedergekäuten Phrasen und dem organisierten Energiewende-Widerstand in Deutschland. Die Strippen verlaufen von den US-amerikanischen Öl-, Gas-, Kohle- und Chemie-Milliardären über als „Institut“ oder „Think-Tank“ getarnte Lobbyorganisationen wie dem „The Heartland Institute“, das Spenden der Industrie einwirbt, um damit die Verbreitung von Zweifeln am Klimawandel zu finanzieren. Zu diesen US-Organisationen zählt auch das „Committee for a Constructive Tomorrow“ (CFACT), das unter anderem von Chrysler, ExxonMobil, Chevron und den rechts-libertären Koch Brothers finanziert wird. Über seinen Ableger in Jena, CFACT Europe e.V. und dessen Ausgründung EIKE e.V., die Speerspitze der deutschen Klimaschmutzlobby, verlaufen die transatlantischen Verbindungslinien. Die Abkürzung EIKE steht für „Europäisches Institut für Klima und Energie“. „Institut“ ist dabei kein geschützter Begriff. Jede Pommesbude dürfte sich auch „Institut für thermisch behandelte Feldfrüchte“ nennen.
Eng verwobene Strukturen
Recherchen des ARD-Magazins Monitor belegten vor zwei Jahren, dass es damals unter der Adresse Unstrutweg 2 in Jena kein Büro gab, sondern nur ein Klingelschild mit der Aufschrift „EIKE e.V.“, direkt darunter an derselben Klingel ein Aufkleber vom „TvR Medienverlag“. EIKE-Präsident Dr. Holger J. Thuß verlegt über diesen TvR-Verlag den Verschwörungstheorien nahe Klimaleugner-Bücher. Das dafür genutzte Jenaer Postfach 11 01 11 bietet offensichtlich ausreichend Platz für die Post an den TvR-Verlag, an CFACT-Europe und an das EIKE „Institut“. Der Historiker Thuß, der 2005 über „Freiheit und Ordnung“ promovierte, wird in den USA als Experte in Umweltfragen bei der prominentesten, industriefinanzierten Denkfabrik „The Heartland Institute“ gelistet, in einer Reihe mit dem Merchant of Doubt von zweifelhaftem Weltruhm, dem 2020 verstorbenen Fred Singer und dem Klimawandel-Skeptiker Paul K. Driessen. Im Gründungsjahr des TvR-Verlags 2006 erschien ebenda das von Thuß übersetzte Buch „Öko-Imperialismus: Grüne Kraft – schwarzer Tod“, das 2003 von Driessen verfasst wurde. Driessen gilt laut TvR-Verlag „weltweit als Experte für das Thema ‚Öko-Imperialismus‘ und ist Senior Politikberater von CFACT und CFACT Europe“.
Verwirrende Gemengelage: Es ist für Unbedarfte kaum zu durchschauen, wie verstrickt das Netzwerk ist, deren Strippenzieher das positive Image der Energiewende in Deutschland zerstören möchten. Ein Blick in das Impressum von EIKE, CFACT Europe und des TvR-Medienverlags offenbarte bis vor Kurzem, dass alle drei Organisationen im selben Postfach residierten.
Zu den fossilatomaren Schriften des TvR-Verlags zählt auch das Buch „Strom ist nicht gleich Strom“, in dem EIKE-Vizepräsident Michael Limburg niederschrieb „Warum die Energiewende nicht gelingen kann“. Der 80-jährige ist gleichzeitig als Vize im Bundesfachausschuss Energie der AfD Mitgestalter der Energie- und Klimapolitik der Partei. Den Rechtspopulisten gelingt immer wieder die Kunst, sich einerseits gegen die Klimawissenschaft zu positionieren, um so die fossilen Energien schönzureden und andererseits die Anhänger der Atomkraft lauthals zu unterstützen, die wiederum ihre Lieblingstechnik als besten Klimaschützer bewerben.
Feindbild Windkraft
Der größte Feind der alten fossilatomaren Energiewirtschaft ist schnell ausgemacht: Es ist die Windkraft, die als Zugpferd der Erneuerbaren Energien nach Einführung des Erneuerbaren Energien Gesetzes (EEG) sehr schnell derart hohe Stromproduktionsraten lieferte, dass es die alten Energien empfindlich zu spüren bekamen. Im Jahr 2019 lieferte die Windkraft rund ein Viertel der Netto-Stromproduktion, im ersten Halbjahr 2020 waren es gut 30 Prozent. So ist es nur folgerichtig, dass sie zuvorderst bekämpft wird und die Klimaleugner von EIKE eine ganze Litanei an Schriften über die sogenannten „Fakten und Quellen zu Windkraft“ veröffentlichen.
Das Astroturf-Netz
Von hier führen die Spuren zu den bundesweiten Anti-Wind-Organisationen „Windwahn“, „Gegenwind“, diversen sogenannten „Landschaftsschutz“-Vereinen und dem Lobby-Netzwerk „Vernunftkraft“, das unter anderem Anleitungen zu Leserbriefen und Buchempfehlungen gibt, beispielsweise zu in AfD-Kreisen gefeierter Lektüre aus dem TvR-Verlag. Unter dem Stichwort „Erste Hilfe“ bekommen Anti-Windkraft-Gruppen und Einzelpersonen Leitlinien zur Verhinderung von Windrädern an die Hand. „Vernunftkraft“ vermittelt Referenten und vernetzt über eine interaktive Karte mehrere hundert Anti-Windkraft-Gruppen in Deutschland, die vom Glaubwürdigkeits-Bonus von Bürgerinitiativen profitieren, aus der Zeit, als Bürgerinitiativen noch von unten, aus der Mitte der Bevölkerung entstanden sind.
Ein Kessel Buntes zum Energiewende-Bashing aus den TvR Verlag: Ganz am Anfang stand die Übersetzung von „Eco-Imperialism – Green Power, Black Death“ von US-Klimaskeptiker und CFACT-Mitglied Paul K. Driessen.
Kraft der Unvernunft
Vernunftkraft-Vertreter dürfen dem Bundeswirtschaftsminister in seinem privaten Garten beim Kaffeekränzchen die Nachteile der Windkraft erläutern. Der erste Vorsitzende von Vernunftkraft, Nikolai Ziegler, geht im Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) ein und aus. Das bringt sein Job als Referent im BMWi mit sich. Er hält nichts von der Energiewende. Als er vom ARD-Magazin Monitor zum Klimawandel befragt wurde, kam er ins Schlingern: „Das mit der überwältigenden Mehrheit [Anm. d. Red.: der Wissenschaftlerinnen, die den menschengemachten Klimawandel nicht anzweifeln] ist ja so eine Sache. Diese 97 Prozent, die da zitiert werden, da halte ich nichts davon. Erst mal wurden da im wesentlichen Leute befragt, die irgendwie schon in dieser Klimawissenschaft drin sind.“ Ziegler sieht keinen Interessenkonflikt, obwohl er in mehreren Anti-Energiewende-Vereinen aktiv ist, auch im Bundesverband Landschaftsschutz (BLS) und im verbandsklageberechtigten Verein für Landschaftspflege und Artenschutz (VLAB).
Klangvoll-suggestive Vereinsnamen
Ein Punkt im äußersten Südwesten der Vernunftkraft-Karte verlinkt zur „Landschafts- und Naturschutz-Initiative Schwarzwald e.V.“ (LANA), vormals „Bürgerinitiative zum Schutz des Hochschwarzwaldes e.V.“. Auch das klingt nach Landschaftsschutz, ist aber – nicht nur gemäß Satzung – Windkraft-Verhinderung mit integriertem Kanal für steuerlich absetzbare Spenden. Auch der LANA e.V. ist verbandsklageberechtigt, er bekam dafür den Segen des baden-württembergischen Umweltministeriums, obwohl die „gemeinnützige“ Verhinderung von Windenergieanlagen der Zielsetzung des Koalitionsvertrags der schwarz-grünen Landesregierung diametral entgegensteht. Aus Vereinsdokumenten wird ersichtlich, dass man nach dem Schlüssel suche, wie Windräder zu verhindern sind. „Dann wären wir am Ziel
und könnten die Auflösung des Vereins beschließen.“
Die braunkohlefreundliche Gewerkschaft IG BCE will gemeinsam mit Energiekonzernen im „Innovationsforum Energiewende“ den „Fehlsteuerungen im energiewirtschaftlichen Bereich entgegenwirken […] und für mehr Aufklärung sorgen“.
Vom Schwarzwald-Hauptquartier werden 16 Untergruppen zentral koordiniert, im Prinzip so, wie es der Windkraftgegner und Tunnelbohr-Gigant Martin Herrenknecht gedanklich organisiert hat: „mit einer schlagkräftigen Bürgerbewegung über die Energiewende generell diskutieren und etwas gegen diesen Wahnsinn erreichen“. Sehr rational gedacht, so kann jede neue Bürgerinitiative die immer gleichen Referenten für ihre Zwecke aufs Podium stellen, dieselben Argumentationsleitfäden nutzen, denselben Landschaftsarchitekten für erschreckende Fotomontagen beauftragen, denselben Infraschall-Betroffenen als Überraschungsgast auf immer andere Bühnen bitten, denselben Zahnarzt als Infraschall-Experten vorschieben.
Kapitale Unterstützung bekommen die Windkraft- und Energiewende-Gegner vom sogenannten Innovationsforum Energiewende e.V. (If.E). Ebenso wie die unter dem Dach des Vernunftkraft e.V. versammelten Ortsgruppen will auch das If.E „Fehlsteuerungen im energiewirtschaftlichen Bereich entgegenwirken und in einer breiten Öffentlichkeit für mehr Aufklärung sorgen“. In der Mitgliederliste finden sich lauter große Namen der fossilen Wirtschaft: Vertreter von IG BCE, RWE, LEAG, BP, Uniper, MIBRAG, E.on, und auch der Public-Affairs-Direktor der Hydro Aluminium Deutschland GmbH, der als Rechtsanwalt seit Jahren Windkraftgegner in ganz Deutschland unterstützt.
Geisterfahrer
Es ist kaum zu vermuten, dass die braven Bürger in all den Ortsgruppen wissen, vor wessen Karren sie sich spannen lassen. Wenn der Puls erstmal steigt, bei der Vorstellung, ein Windrad sei gefährlicher als Autoabgase, Pestizide oder eine radioaktive Wolke, verliert man die großen Zusammenhänge schonmal aus dem Blick. Es springt einem ja auch nicht direkt ins Auge, dass es neben den einheimischen Partikularinteressen auch die milliardenschwere amerikanische Öl-, Gas-, Kohle- und Atomindustrie gibt, die nach Fukushima mit schreckgeweiteten Augen auf ein florierendes Erneuerbare-Energie-Wirtschaftswunder mit beneidenswerter Akzeptanz in Energiewende-Deutschland starrte. Dabei ist mittlerweile für das Heartland Institute der Nachweis erbracht, dass man dort mit Geld-Angeboten aus der deutschen Fossil-Industrie ein routiniert geschnürtes PR-Strategie-Paket bekommen kann, inklusive Verschleierung der Geldströme und diskret untergebrachten Wunsch-Schlagworten. Inhalte gegen Geld. In einer Undercover-Recherche bekamen Journalisten vom Recherchenetzwerk Correctiv dieses zweifelhafte Angebot schriftlich. Jede der ideologischen, finanziellen und personellen Verbindungen zwischen Big-Oil, den milliardenschweren US-Klimaleugner-Organisationen über EIKE bis zur AfD im Bundestag ist belegt.
ZDF Frontal21-Video: Klimawandel-Leugnern auf der Spur: Die Strategie des Heartland-Instituts
Die AfD-nahe Influencerin gehört zum Angebots-Portfolio der Heartlandlobby, wie Recherchen von „Correctiv“ ergeben: „Ein Thema pushen, das machen wir für viele Spender. Hier habe ich Naomi, die macht einen richtig guten Job.“
Energiewende-Germany: Der perfekte Albtraum
Für die US-Lobby und ihre Merchants of Doubt muss es der perfekte Albtraum gewesen sein, was sich zu EEG-Boom-Zeiten in Germany tat: ein Industrieland verabschiedet sich von der Atomkraft, ohne dafür mehr Kohlestrom zu brauchen. Die Erneuerbaren entwickeln sich zu einem Jobmotor, die Preise für Solarmodule und Windkraftanlagen rauschen in den Keller.
Über 100 Länder führten eine Einspeisevergütung nach deutschem EEG-Vorbild ein. Internationale Fernsehteams traten sich an den Vorzeigeorten der Energiewende gegenseitig auf die Füße. Delegationen aus aller Welt pilgerten nach Energy-Germany und klopfen den Energiewende-Aktiven auf die Schultern: “Hey you guys in Germany do a really great job!“ Das war für einige ein ganz neues Gefühl, mal kollektiv als „Ihr Deutschen“ Zuspruch aus der ganzen Welt zu erfahren.
Für Lobby-Strategen, die seit Jahren einen ganzen Kontinent auf Kurs halten, die den Menschen dort mit milliardenschweren Kampagnen einbläuen, dass die gesamte Elite der Klimawissenschaftler Unsinn verzapfe und es einen Klimawandel nicht gäbe, obgleich ihre eigenen Forscher diesen bereits seit den 1950er Jahren untersuchen und belegen, müssen sich die Entwicklungen in Germany wie ein hochinfektiöses Virus angefühlt haben, das es mit allen Mitteln zu unterdrücken gilt. Wenn Germany einknickt, ist die schlimmste Gefahr durch die Energiewende gebannt.
* Der Geologe Dr. James Powel wertete für diese Erhebung sämtliche über die Suchmaschine „Web of Science“ unter den Suchworten „global warming“ sowie „global climate change“ auffindbaren Publikationen aus dem Zeitraum von 1991 bis 2012 aus, die nach den wissenschaftlichen Standards eines „Peer-Reviews“ veröffentlicht wurden. In einer neueren Erhebung im Zeitraum von Januar bis Juli 2019 fand sich keine wissenschaftliche Publikation mehr, die den menschengemachten Klimawandel noch verneint.
bdev.de/powelchart bdev.de/powelarticle
Dr. Eva Stegen ist seit 2004 Energiereferentin bei den Stromrebellen der Elektrizitätswerke Schönau und engagiert sich auch privat für einen Ausstieg aus Atom- und Kohlekraft sowie für einen ambitionierteren Ausbau der Erneuerbaren. In ihrem Blog und auf Twitter reicht ihr Themenspektrum vom Klimaschal-Stricken bis zu Atom-U-Boot-Antrieben.
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Ausgebremst: Wind- und Sonnenkraft kombiniert
Von Louis-F. Stahl
(5. November 2020) Drei Fliegen mit einer Klappe schlagen, dabei zwei sich ergänzende erneuerbare Energieformen kombinieren und die Energiewende voranbringen: Das war der Plan des Windparkbetreibers Westfalenwind, der auf unerwarteten Widerstand stieß.
Windkraftanlagen benötigen eine befestigte Kranstellfläche für die Montage der Anlage und später gegebenenfalls nötige Reparaturarbeiten. In den Zeiten, in denen kein Wind weht, brauchen die Anlagen zudem Strom aus dem Netz. Also errichtete Westfalenwind kurzerhand eine PV-Anlage auf Montagegestellen und nutzte damit den brachliegenden Kranstellplatz neben einer ihrer Windkraftanlagen. Dank der Gestelle kann die Anlage schnell beiseite geräumt werden, um bei Bedarf wieder einem Kran Platz zu machen und mit dem Strom aus der „Kranstellflächen-PV-Anlage“ kann der Bereitschaftsstromverbrauch des ganzen Windparks gesenkt werden. Eine sinnvolle Nutzung versiegelter Brachflächen, die aufgrund der zusätzlichen erneuerbaren Stromerzeugung im Sinne der Energiewende ist und noch dazu die laufenden Betriebskosten senkt. Eine Win-Win-Win-Situation, könnte man meinen.
Wenige Wochen nach der Inbetriebnahme erhielt Westfalenwind jedoch nicht etwa eine Auszeichnung für das geniale Konzept, sondern einen Bußgeldbescheid vom Landkreis Paderborn: „Die [Photovoltaikanlage] führe zu einer Verunstaltung des Landschaftsbildes“ und sei eine „ästhetische Belastung für den Betrachter“. Entgegen anderslautender Auskünfte sei zudem eine Baugenehmigung erforderlich, die aus den genannten Gründen nicht erteilt werde. Westfalenwind ließ es auf eine Klage vor dem Verwaltungsgericht ankommen. Eine Entscheidung brauchten die Richter allerdings nicht zu fällen: Die nordrhein-westfälische Landesregierung nahm den örtlichen Amtsschimmel an die harte Kandare. Das Verfahren wurde inzwischen zu Gunsten der Energiewendepioniere eingestellt.
Wer der Annahme erlegen ist, dass der Ausstieg Deutschlands aus der Kohlestromproduktion bereits beschlossene Sache sei, könnte sich getäuscht haben. weiter lesen
Steag verklagt Deutschland
Von Leonora Holling
(3. November 2020) Wer der Annahme erlegen ist, dass der Ausstieg Deutschlands aus der Kohlestromproduktion bereits beschlossene Sache sei, könnte sich getäuscht haben. Der Essener Stromerzeuger Steag (ehemals Steinkohlen-Elektrizität AG), welcher zur Verstromung Steinkohle nutzt, sieht im Kohleausstieg in seiner beschlossenen Form eine massive Benachteiligung der Steinkohleverstromung gegenüber der Braunkohleverstromung. Nach Ansicht der Steag würden die Betreiber von Braunkohlekraftwerken für deren Stilllegung zum Nachteil der Steinkohlekraftwerksbetreiber überproportional entschädigt.
Am 30. Juli 2020 hat die Steag beim Bundesverfassungsgericht einen Eilantrag gegen das Kohleverstromungsbeendigungsgesetz (KVBG) eingelegt. Pikant dabei: Das Kohleunternehmen Steag gehört mehrheitlich der „Kommunale Beteiligungsgesellschaft GmbH“, die wiederum ein Zusammenschluss kommunaler Versorger ist. Im Ergebnis gehen somit von der Kohle finanziell profitierende Kommunen gegen ein Bundesgesetz zum Klimaschutz vor.
Die Steag sieht im KVBG einen Eingriff in ihr nach Artikel 14 Grundgesetz geschütztes Eigentum. Der Gang direkt nach Karlsruhe war erforderlich, da das KVBG einen Rechtsschutz bei den Zivil- und Verwaltungsgerichten für die vom Kohleausstieg betroffenen Unternehmen praktisch nicht vorsieht. Auch andere Inhaber von Steinkohlekraftwerken beobachten die Verfassungsbeschwerde aufmerksam, da auch sie für sich eine fehlende Planungs- und Rechtssicherheit durch das KVBG sehen. Wann die Verfassungsrichter in Karlsruhe entscheiden werden, ist noch völlig offen.
schließenMilliarden für Wasserstoff weiter lesen
Corona-Konjunkturpaket: Milliarden für Wasserstoff
Von Louis-F. Stahl
(9. August 2020) In Sachen Wasserstoff gibt die Bundesregierung jetzt Vollgas: Am 10. Juni wurde durch das Bundeswirtschaftsministerium die am gleichen Tag vom Bundeskabinett beschlossene „Nationale Wasserstoffstrategie“ vorgestellt. Nur knapp drei Wochen später wurde am 29. Juni 2020 vom Bundestag das „Konjunktur- und Krisenbewältigungspaket“, beschlossen, welches unter anderem 9 Milliarden Euro für Wasserstoffprojekte bereitstellt.
Die Bundesregierung erhofft sich damit, nachdem die Solarindustrie aus Deutschland vertrieben wurde, die Windbranche im Sterben liegt und sich in Deutschland auch keine Batteriefertigung etablieren konnte, nun einen „Markthochlauf von Wasserstofftechnologien in Deutschland“.
Koordiniert werden soll die Strategie durch einen mit den Staatssekretären von fünf Bundesministerien besetzten „Staatssekretärsausschuss“, der von einem „Nationalen Wasserstoffrat“ bestehend aus Wissenschaftlern, Beamten und Vertretern der Bundesländer beraten wird. Daneben wird eine „Leitstelle Wasserstoff“ eingerichtet, die jährlich einen Monitoringbericht erstellen soll.
Die „Nationale Wasserstoffstrategie“ listet 38 konkrete Vorhaben auf. Dazu zählen fragwürdige Punkte wie die Schaffung von „Möglichkeiten für neue Geschäfts- und Kooperationsmodelle von Betreibern von Elektrolyseuren mit Strom- und Gasnetzbetreibern. […] Der Änderungsbedarf des regulatorischen Rahmens zur Schaffung der dafür notwendigen Voraussetzungen wird entsprechend geprüft.“ Neben der zukünftigen Sicherung der bereits heute mehr als auskömmlichen Renditen von Netzbetreibern (siehe „Sprudelnde Gewinne“) und dem Abbau von „regulatorischen Hemmnissen“ soll insbesondere auch die „Industrie unterstützt“ werden, um „Wasserstofftechnologien zu einem zentralen Geschäftsfeld der deutschen Exportwirtschaft [zu] entwickeln.“
Inwieweit die sehr geringe Energie- und Kosteneffizienz der Wasserstofftechnik im Bereich der Elektrolyse aus grünem Strom sowie im Mobilitätssektor als physikalisches Hemmnis den wohlklingenden Plänen der Regierung im Wege steht (siehe „Wasserstoffmobilität als Königsweg?“), darauf gibt das Strategiepapier keine Antwort. Für die deutschen Automobilhersteller, die inzwischen auf die effizientere Batterietechnik setzen, ist der Wasserstoffzug wohl bereits abgefahren (siehe ED 2/2020 S. 5) in diesem Heft). Für die angeschlagenen deutschen Energiekonzerne könnten sich die 9 Milliarden Euro der Wasserstoffstrategie jedoch als rettende Einnahmequelle erweisen.
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