Woher die Energie im Jahre 2033 kommt
Wie sieht die Energiesituation in 30 Jahren aus? Welche Art der Energiegewinnung wird sich durchsetzen? Rudolf Rechsteiner wagt in seinem Diskussionsbeitrag einen Blick in die Zukunft: Das Erdöl wird knapp, an seine Stelle treten erneuerbare Energien, und das letzte Atomkraftwerk schließt rund um das Jahr 2020.
Die «Telefonnummer» der Energiepolitik lautet 73-79-86-00-07. Zwei Ölpreisschocks erschreckten 1973 und 79 die Welt und bescherten uns autofreie Sonntage. 1986 explodierte der Atomreaktor von Tschernobyl, kurz zuvor war das Opec-Kartell wegen Überproduktion implodiert. Es folgten Jahre des extrem billigen Öls (14 bis 20 $/Fass). Erst im Jahr 2000 eroberte die Opec den Ölmarkt zurück. In Kalifornien begannen die ersten Blackouts. Und im Jahr 2007 wird die Öffnung des europäischen Strommarktes vollendet sein.
Turbulenzen vor 2010
Die Verknappung von Erdöl und Erdgas wird mittelfristig alle Diskussionen über Energie überschatten. Schon 1956 schrieb der amerikanische Ölgeologe M. King Hubbert, dass die technische Produktionsleistung von Erdöl entlang einer Glockenkurve (Hubbert-Kurve) verläuft: Nach einem steilen Anstieg folgt ein Plateau, anschliessend fällt die Produktion ab. Hubbert wurde verlacht und verketzert, aber die US-Ölförderung folgte haargenau seinen Prognosen und sinkt seit 1971. Global werden jährlich 27 Mrd. Fass Öl gefördert, aber nur noch 3-8 Mrd. neu entdeckt. Öl wird zwar noch über 100 Jahre fliessen, aber in immer kleineren Mengen. Namhafte Geologen rechnen damit, dass das heutige Produktionsniveau kaum länger als bis 2010 aufrechterhalten werden kann, ob mit oder ohne US Army am Persischen Golf. Seit Beginn dieses Jahrzehnts hat sich der Ölpreis bereits auf 30 $/Fass verdoppelt, und der Ölpreis dürfte sich vor 2010 nochmals verdoppeln, selbst wenn alle Lieferländer willig liefern. Die billigen Reserven erschöpfen sich zusehends. Die Nachfrage wächst - vorab in Asien -global um 2 Prozent pro Jahr. Gleichzeitig wollen die Opec-Länder (inklusive Russland) den wachsenden Eigenbedarf befriedigen. Eine strukturelle Unterversorgung mit Erdöl ist damit programmiert.
Erdgas kann diese Nachfrage während kurzer Zeit noch auffangen, ist aber punkto Transport, Lagerhaltung und Verfügbarkeit zweitklassig, und Kohle stösst aus ökologischen Gründen auf Widerstand. Die grössten Ölländer gehören zudem zu den reichsten Haltern von Erdgas, deshalb werden sie ihre Reserven lieber horten, um den Wert zu steigern, als den endlichen Reichtum zu Billigstpreisen zu verschleudern.
Solarzellen billiger als Ziegel
Es entspringt nicht ökologischer Träumerei, wenn hier die Prognose aufgestellt wird, dass erneuerbare Energien (Wasserkraft, Windenergie, Geothermie, Solartechnik, Biomasse) in diesem Umfeld ihren Durchbruch feiern werden. Dabei werden klima- und umweltpolitische Rahmenbedingungen, z. B. der europäische Emissionshandel und die EU-Direktiven zum Ausbau der erneuerbaren Energien, eine wichtige Rolle spielen. Langfristig werden aber volatile und steigende Öl- und Gaspreise ein Umdenken auch in Ländern wie den USA erzwingen, deren Regierungen heute wenig von Ökologie wissen wollen.
Diese Entwicklungen wirken bis in den Stromsektor, denn der Ölpreis beeinflusst die Gaspreise, und diese beeinflussen - im Zeitalter der Gasturbine - den Strompreis. Statt Deregulierung und Globalisierung werden bald wieder Unabhängigkeit und Sicherheit der Versorgung zuoberst auf der Agenda stehen. Durch Verknappung des Öls, Klimawandel, Kriegs- und Terrorgefahr wird in Wirtschaft und Bevölkerung der Appetit nach Berechenbarkeit, Sicherheit und Ungefährlichkeit der Energieversorgung wachsen. Unregulierte Märkte führen zur Konzentration auf einen Energieträger - den billigsten. Das waren bisher Öl und Gas, wobei die Versorgungsketten immer länger, die Abhängigkeiten grösser und die Umweltfolgen unerträglicher werden.
Erneuerbare Energien zwingen wegen ihres meist intermittierenden Charakters zur Diversifikation, zur Effizienz, zur Innovation und zur Kundennähe. Sie sind prinzipiell unerschöpflich und bei umsichtiger Gewinnung für Klima und Umwelt unschädlich. Mit den erneuerbaren Energien wird verstärkt Subsidiarität in die Versorgung Einzug halten: Man kauft auswärts ein, was man selber nicht zu tragbaren Kosten produzieren kann. Dies gilt sowohl für Länder und Regionen wie auch für Haushalte: In dreissig Jahren wird jedes neue Dach und jeder Keller Energie- oder Stromlieferant sein, sei es mit Solaranlagen, Holzheizung, Brennstoffzellen oder Mikro-Gasturbinen. Solarzellen werden im Jahr 2033 billiger sein als Ziegel, und sie können bei angemessener Vergütung im Netzverbund die Versorgungssicherheit und das Lastmanagement verbessern. Eine solche Umstellung erfordert neue Rahmenbedingungen, soll nicht nur der billigste Energieträger zum Zuge kommen, sondern eine breite Palette von Erzeugungs- und Nutzungstechniken.
Was es braucht, sind keine neuen zentralstaatlichen Experimente mit von der Atomlobby gesponserten «Gesamt-Energie-Kommissionen». Wenn die erneuerbaren Energien kostendeckend vergütet werden - lange das Privileg der Atomkraft -, werden sie sich nicht nur durchsetzen, sondern rasch billiger werden, wie sich dies bei Wasser- und Windkraft historisch nachweisen lässt. Nötig sind ein europäisches Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) nach deutschem Muster, eine gemässigte ökologische Steuerreform sowie Tarif- und Verbrauchsvorschriften, die die Verschwendung von Energie konsequent abstrafen. Alles andere wird der freie Markt leisten.
Der Siegeszugs der Elektrizität wird anhalten, aber das Recht, beliebig mit stabiler Spannung versorgt zu werden, muss ergänzt werden durch die Pflicht zur effizienten Nutzung und zur zumutbaren dezentralen Eigenversorgung und Reservehaltung. Die Trennung von Erzeugung, Transport und Verteilung («Unbundling») wird irreversibel zur Entstaatlichung der Stromerzeugung führen und die Gleichbehandlung der zentralen und der dezentralen Stromerzeugung begünstigen. Private Gewinnmaximierer sorgen aber nicht freiwillig und unbezahlt für Umweltschutz und Reservehaltung. Deshalb muss parallel zum Unbundling ein staatlicher Regulator den Netzzugang, die Versorgungssicherheit und die ökologischen Anliegen durchsetzen.
Öl aus Ölsand und -schiefer wird konventionelles Erdöl nicht ersetzen können, weil es ökonomisch und ökologisch zu teuer und in der Gewinnung zu energieaufwendig im Vergleich zu den neuen Erneuerbaren ist. Auch die Kernfusion wird ein teurer Traum bleiben. Dafür werden Erdgas, Strom und «Biofuels» im Verkehr Einzug halten.
Atomkraft - ein Opfer des Wettbewerbs
Die Atomenergie wird wegen ihrer hohen Investitionskosten (4-6 $/Watt) im freien Wettbewerb untergehen. In geöffneten Strommärkten ist es nicht länger möglich, diese teuren Komplexe aberwitziger Physiker aus dem intransparenten Mischtarif zu subventionieren. Zudem fehlen Lösungen für die sichere Entsorgung und den Schutz vor Unfällen und Terror. Private Investoren lassen sich nicht gerne auf solche Techniken ein, wenn billigere Alternativen zur Verfügung stehen, die erst noch das Vertrauen der Bevölkerung geniessen. Wenn der Ausstieg aus der Atomenergie dereinst nicht von einem mutigeren Bundesrat beschlossen wird, dann werden wie in Grossbritannien die Buchhalter der Stromkonzerne diese geschützte Werkstatt schliessen.
Die Elektrizität wird im Jahre 2033 aus einem breiteren Mix stammen als heute, vor allem dank Windenergie und Geothermie («Deep heat mining»). Der Windmarkt hat sich seit 1993 auf über 7 Mrd. $ verzehnfacht. Windkraft ist an guten Lagen billiger als neuer Strom aus Atom, Erdöl oder Kohle und über den vollen Lebenszyklus gerechnet etwa gleich teuer wie Strom aus Gas. Die Vorteile sind immens: Investitionskosten von weniger als 1 $/Watt, kurze Bauzeiten (2-20 Wochen), Winter- und Sommerspitzen der Produktion (je nach Standort), globale Verfügbarkeit, keine Emissionen, keine Brennstoff- und Entsorgungskosten und stetig sinkende Kosten dank effizienteren und grösseren Anlagen.
Die Kostenstruktur ist wie bei der Wasserkraft speziell: Einer einmaligen Anfangsinvestition folgen sehr tiefe Kosten für Betrieb und Unterhalt. Europa gehört die Windenergie bereits zum Mainstream. Sie ist gegen Preisschwankungen am Öl- und Gasmarkt völlig immun. Am US-Strommarkt gewinnt das «Hedging» mit Wind explosiv an Bedeutung, weil die US-Gasversorgung kollabiert. Und die Potenziale sind extrem gross: Auf einer Fläche von 200 mal 200 Kilometern, bestückt mit zwei 5-MW-Turbinen pro km2, lässt sich der Stromverbrauch der Europäischen Union (EU-15) herstellen. Dänen, Deutsche und Briten arbeiten fieberhaft an der Entwicklung von Off-shore-Windfarmen, die eine saubere, unerschöpfliche und langfristig auch sehr kostengünstige Stromversorgung aus der Nordsee versprechen.
In der Schweiz werden Windturbinen mangels Wind eine eher kleine Rolle spielen. Bedeutend bleibt die Wasserkraft, auch strategisch. Das reichliche Sommerangebot und die Spitzenenergie der Stauseen sind prädestiniert zur Kombination mit den intermittierenden Wind- und Solartechniken. Wasserkraft und Wind sind technisch, ökologisch und ökonomisch ein «Dream-Team», Geothermie, Biomasse und Solartechnik werden den Energiemix ergänzen. Da neue Gebäudehüllen immer effizienter werden, wird sich Strom sowohl als Regel- wie als Nutzenergie (für effizientere Wärmepumpen, Sonnenkollektoren und energieaktive Lüftungen) weiter durchsetzen. Nach der Schliessung der letzten Atomkraftwerke um das Jahr 2020 wird die Elektrizität auch ökologisch als echt saubere Energiequelle dastehen. Mit Supraleitung und neuer Leistungselektronik lassen sich die Leitungsverluste bis 2033 halbieren und die Netzkapazitäten ohne neue Linien mindestens verdoppeln.
Und Überraschungen?
Wer so weit Ausblick hält, sollte Überraschungen nicht ausschliessen. Die explosive Zunahme der Windenergie war eine solche Überraschung. Kein Institut der Welt hat vor 1990 Wachstumsraten von 25 bis 35 Prozent pro Jahr prognostiziert. Windkraft wird vor 2020 die Atom- und die Wasserkraft global überholen. Vielleicht gelingt auch in anderen Bereichen ein Durchbruch. Heute ist dies (noch) nicht offensichtlich, denn Wind- und Wasserkraft brauchten Jahrzehnte bis zur Blüte. Der hochgejubelten Wasserstoff-Wirtschaft mangelt es an Effizienz und Wirtschaftlichkeit; den Promotoren (in den USA) geht es dabei eher um eine neue Verpackung für eine zentralstaatlich lancierte Neuauflage der Atomkraft. Eher zu erwarten sind Überraschungen bei leistungsfähigen Solarzellen, aber das Tempo dieser Entwicklung ist ungewiss.
Aus: Neue Züricher Zeitung, INTERNATIONALE AUSGABE, Samstag/Sonntag, 8./9. November 2003, Nr. 260
Von Rudolf Rechsteiner , Dozent für praktische Umweltpolitik an der Universität Basel und Nationalrat (sp., Basel-Stadt). Zuletzt ist von ihm erschienen: Grün gewinnt - Die letzte Ölkrise und danach. Orell-Füssli-Verlag AG, Zürich 2003.
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